Meret Oppenheim (1913−1985)
2 - Das Geheimnis der Vegetation, 1972
Öl auf Leinwand,
Hermann und Margrit Rupf-Stiftung, Kunstmuseum Bern

Seit ihrer Jugend interessierte sich Meret Oppenheim, die durch ihren Vater, den Arzt Erich Alphons Oppenheim, mit den Lehren des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung vertraut war, für ihr Unbewusstes und notierte ihre Träume und Wachträume in tagebuchartigen Aufzeichnungen. Als Hervorbringungen einer freien und absichtslosen Imagination dienten ihr Träume als Schlüssel zur Ergründung ihres Innenlebens und ihrer individuellen Kreativität – insofern war ihre Haltung zum Traum derjenigen der Surrealisten verwandt –, gleichzeitig erkannte sie darin in Anlehnung an Jung eine Möglichkeit, «Universelles» freizulegen. Träume bildeten das Ideenreservoir für ihren Bildkosmos und ihre Bildverfahren.
Das Geheimnis der Vegetation, ein Hauptwerk Oppenheims aus dem Jahr 1972, das 1982 durch einen Ankauf der Hermann und Margrit Rupf-Stiftung in die Sammlung des Kunstmuseums Bern gelangt ist, stellt eines der seltenen Werke dar, das auf einen konkreten Traum zurückgeht. Oppenheim hatte dafür auf eine über zwanzig Jahre zuvor notierte Traumaufzeichnung zurückgegriffen, deren Schlusssatz sie zu Titel und Motto des rätselhaften Gemäldes machte: «Ich ging auf einem steinigen Pfad einen Berg hinauf (es war der San Salvatore). Ich sah meine Freundin Irène Zurkinden in sonnendurchschienenem hellgrünem Gebüsch stehen. Auch ihre Wimpern und Haare (die von Natur blond sind) hatten einen grünen Schimmer. Ich sagte: ‘Ich bin das Geheimnis der Vegetation’.» Ausgehend von dieser geträumten Naturerfahrung entwickelte Oppenheim mittels einer Skizze (Privatbesitz, Basel), die bereits die vertikale, beinahe symmetrische Grundkomposition des finalen Werkes vorbereitet, ihre abstrakte Naturvision. [...]
Verkörpert im Traum eine Frauenfigur das Geheimnis der Natur, so wird diese im Bild zu einer weissen Säule transformiert, die hinter lichtdurchflutetem, flimmerndem Laub verborgen Himmel und Erde verbindet. Entlang dieser zentralen «Statue», wie sie Oppenheim bezeichnet, steigen in zwei vertikalen Bahnen Serpentinen mit schlangenhautartigem Muster auf, die jeweils in einem abstrakten Zeichen – einer blauen Augenform links und einem weissen Kreis rechts – münden. Wie Oppenheim ausführt, symbolisieren diese die Pole jener zwei Energieströme, die das Universum in einer unendlichen Bewegung durchwirken – «Plus und Minus, Leben und Tod, Yin und Yang» [...].
Quelle: Kunstmuseum Bern. Meisterwerke, Hg. Matthias Frehner / Valentina Locatelli, München: Hirmer Verlag, 2016, Kat. Nr. 131, S. 298 (Autorin: Heike Eipeldauer)