Auguste de Niederhäusern (Rodo) (1863−1913)
48 - Avalanche, 1890/1891
Gips,
Kunstmuseum Bern, Schenkung der Witwe des Künstlers

Im Anschluss an seine künstlerische Grundausbildung ging Rodo 1886 von Genf nach Paris, um dort weitere Kurse an der Ecole nationale des beaux-arts und der Académie Julian zu besuchen. Er begann hier vier Jahre später, inspiriert von einer Reise in die Zentralschweiz, mit der Arbeit an einer gewaltigen Komposition unter dem Titel Le Poème alpestre aus drei grossen Hochreliefs – Avalanche, Cascade und Torrent – und mehreren Flachreliefs, die er ursprünglich am Felsen eines Berges ausführen wollte. Im Februar/März 1891 zeigte er die Gipsmodelle von Avalanche und Cascade in einer Genfer Ausstellung. Aus diesem Anlass erläuterte er Avalanche (Lawine) einem Redaktionsmitarbeiter des Journal de Genève: «Die Frau […] schweift wie eine düstere Fee, wie ein böser Geist von Berg zu Berg. […] dann klammert sie sich unvermittelt an die Felssplitter, sucht mit ihrem stählernen Fuss Halt im Schnee und bringt mit zerstörerischem Willen die Lawine ins Rollen. Auf dieser Kugel erscheint ebender Wille als eine Figur im Flachrelief, die mit ausgebreiteten Armen und mit Messern bewaffnet rennt, um alles niederzumähen und zu zermalmen.»
Im Mai desselben Jahres wurde Avalanche im Salon der kurz zuvor in Paris gegründeten Société nationale des beaux-arts gezeigt und – eine seltene Ehre für einen jungen Bildhauer – sogar im Katalog abgebildet. Auguste Rodin, der zu den Gründungsmitgliedern gehörte, engagierte Rodo im folgenden Jahr als Ateliermitarbeiter. 1892 präsentierte Rodo Avalanche auch in Brüssel, um das Werk dann noch einmal 1894 in Bern vorzuführen, wo es in der Zeitung Der Bund für seine «poetisch inspirierte, starke Phantasie» gelobt wurde und «weil in ihm ein höchst origineller Versuch vorliegt, der plastischen Kunst über die etwas langweiligen akademischen Regeln hinaus Neuland zu erobern». Nachdem sich Rodo dennoch vergeblich um einen Auftrag zur Marmorausführung bemüht hatte, widmete er sich von 1896 an einem Verlaine-Denkmal. 1898 ging er wegen eines öffentlichen Auftrags nach Bern. Hochverschuldet kehrte er 1904 der Stadt den Rücken und liess das Gipsmodell von Avalanche in seinem Atelier zurück. Das Werk wurde vom Leiter des Kunstmuseums vor der Zerstörung bewahrt und ist heute der einzige noch existierende Bestandteil von Le Poème alpestre. [...]
Quelle: Kunstmuseum Bern. Meisterwerke, Hg. Matthias Frehner / Valentina Locatelli, München: Hirmer Verlag, 2016, Kat. Nr. 47, S. 122 (Autor: Claude Lapaire)