Nicolas de Staël (1914−1955)
39 - Coin d’atelier à Antibes, 1954
Öl auf Leinwand,
Kunstmuseum Bern, Ankauf mit Beitrag von Verein der Freunde KMB

Ist das Atelierbild aus dem Spätwerk von Nicolas de Staël gegenständlich oder abstrakt? Die Kunstdiskussion im Paris der Fünfzigerjahre kreiste um das Kernproblem «figurativ oder abstrakt». Im künstlerischen Klima der Nachkriegszeit hatten sich verschiedene Tendenzen einer «deuxième abstraction» entwickelt, auch «abstraction chaude» genannt. Diese wurde wieder in unterschiedliche Strömungen aufgeteilt: Tachismus, Informel, Lyrische Abstraktion. Ihre Vertreter gruppierten sich um einzelne Galerien und Kritiker, die sich in der Kunstpresse heftig bekämpften. Als de Staël – ein Künstler der Lyrischen Abstraktion – 1952 über seine Malerei sagte, dass ein Bild sowohl gegenständlich als auch abstrakt sein könne, kam dies für einige Vertreter der abstrakten Kunst einem Verrat gleich.
Nicolas de Staël wurde 1914 in Sankt Petersburg geboren. Er wuchs in Brüssel auf und besuchte dort verschiedene Kunstakademien. Von 1938 an weilte er hauptsächlich in Paris. Während der Kriegsjahre lernte er in Südfrankreich einige Pioniere der abstrakten Kunst kennen, darunter Robert und Sonia Delaunay und Alberto Magnelli, deren Werke seinen Weg in die abstrakte Malerei beeinflussten. Nach 1945 entwickelte de Staël eine Malerei, in der die gespachtelte und in Schichten aufgetragene Farbmaterie Kraftfelder von markanter Textur bilden. […] Unter dem Druck einer grossen Bildproduktion für verschiedene für 1955 geplante Ausstellungen, verletzt durch die Kritik an seinem Werk, aufgerieben durch eine persönliche Lebenskrise zog sich Nicolas de Staël im Herbst 1954 in ein gemietetes Atelier in Antibes zurück. Dort entstanden neben zahlreichen Stillleben und Meerlandschaften bis zu seinem Selbstmord am 16. März 1955 fünf Atelierbilder.
In Coin d’atelier à Antibes ist das Interieur mit den Arbeitsutensilien angedeutet: Tisch, Palette, Stuhl, Gefässe und Pinsel. Sie sind jedoch nicht eindeutig identifizierbar, sondern gehen ineinander über und bilden eine komplexe Anordnung von aufeinander bezogenen Formen und Farbflächen im Raum. […] Die Dinge haben ihre Schwerkraft verloren und scheinen in den rotdominierten Farbraum einzugehen. Die Apotheose dieser Farbe könnte als Hommage an Henri Matisse’ Gemälde L’Atelier rouge (The Museum of Modern Art, New York) zu verstehen sein, das de Staël 1953 in New York gesehen hat und das mit seinem aufsaugenden Rot, durch das Fläche und Raum zusammenfallen, als ein Manifest von Matisse’ Malerei gilt. Auch de Staëls Atelierbild ist ein Manifest, das in seiner Gleichwertigkeit und Ausgewogenheit von Figuration und Abstraktion jene skandalisierte Stellungnahme des Künstlers aus dem Jahr 1952 erfüllt. […]
Quelle: Kunstmuseum Bern. Meisterwerke, Hg. Matthias Frehner / Valentina Locatelli, München: Hirmer Verlag, 2016, Kat. Nr. 137, S. 310 (Autorin: Tina Grüter)