Albert Anker
Lesende, 1882–83
Das Gemälde zeigt ein junges Mädchen, das gemütlich auf einem Holzstuhl sitzt und liest. Natürliches Licht fällt durch ein Fenster auf der rechten Seite ein und beleuchtet das Buch, wodurch die Details des Stoffs ihres Kleides und die Textur der Wand im Hintergrund hervorgehoben werden. Die Szene ist einfach, aber fesselnd, mit einer ruhigen und friedlichen Atmosphäre. Durch die Wahl einer sehr sanften Farbpalette und Ankers präzise Maltechnik wirkt das Bild sehr realistisch. Lesen ist ein wiederkehrendes Thema des Malers, der für seine Porträts des Alltagslebens berühmt ist. Seine Bilder von Inser Bauern beim Zeitunglesen und von Frauen aus einfachen Verhältnissen beim Lesen zeugen von der sozialen Entwicklung des Schriftkonsums in der Schweiz, der sich von einem bürgerlichen Privileg zu einem Instrument der kulturellen und politischen Emanzipation wandelte.
Es gab im 19. Jahrhundert eine ganze Reihe von Ratgebern für die Mädchenerziehung, die sich mit den Lesepraktiken junger Frauen befassten. Diese Ratgeber waren an eine bürgerliche Mittel- und Oberschicht gerichtet. Denn bürgerliche Eltern betrachteten die Lektüre ihrer Töchter oft eher skeptisch. Deshalb sollte sie zeitlich begrenzt und unterhaltsam sein sowie der Gemütsbildung dienen. Sie durfte nicht im Widerspruch zur späteren Aufgabe der Frauen als Hausfrauen und Mütter stehen. Kein Wunder also, dass es auf den Ankerbildern keine Zeitung lesenden jungen Frauen gibt.