Düstere Zeiten: Kahnweilers Briefe nach 1940
Kurz vor der Besetzung von Paris durch die deutsche Wehrmacht kann Kahnweiler im Juni 1940 fliehen. Er und seine Frau Lucie finden Zuflucht im südwestlichen Limousin. Trotz der rigorosen Zensur erreichen Rupf in Bern von dort rund 40 lange, vielfach sehr persönliche Briefe. Sie berichten naturgemäss nicht von Politik, sondern vom Leben auf dem Land, von der Emigration von Freunden, von Ängsten und Krankheiten – und von der intensiven Beschäftigung mit Fragen der Kunst. Um nicht aufzufallen, hat Kahnweiler nach dem Kriegsausbruch 1939 damit begonnen, seine Briefe in französischer Sprache zu verfassen.
Im August 1943 bricht der Briefwechsel abrupt ab. Als Jude verfolgt, muss Kahnweiler untertauchen. Er meldet sich erst am 16. Dezember 1944 wieder.
Briefmaterial
Thomas Sarbacher liest aus Briefen von Daniel-Henry Kahnweiler an Hermann Rupf aus den Jahren 1941 bis 1944. Französisch, 10 Min.
Kahnweiler an Rupf, Le Repaire l’Abbaye – 13. Januar 1941
Meine lieben Freunde
Tausend Dank für eure guten Wünsche.
Wir hoffen, dass Marguerite – die sich zum Zeitpunkt deines Briefs vom [26.] Dez. noch nicht erholt hatte, mein lieber Mane, der es aber zum Zeitpunkt deines Briefs nach Lascaux besser zu gehen schien – sich vollständig erholt hat und ihr nach Mürren aufbrechen könnt. Wintersport – ich muss sagen, dass mich der Gedanke daran mit Grauen erfüllt!
[...]
Ja, du bist 60 Jahre alt – und ich auch schon bald. Ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass wir alt sind. Ich frage mich, ob unsere Väter sich in diesem Alter wie alte Männer fühlten? Ich glaube schon. Es ist im Übrigen nicht unbedingt ein Vorzug, sich jung zu fühlen, und ich benehme mich allzu oft so, als ob ich niemals sterben müsste. [...]
Kahnweiler an Rupf, Le Repaire l’Abbaye – 28. Februar 1941
[...] Unser Leben entspricht, was uns betrifft, diesen Zeiten, ausser dass glücklicherweise die Kälte vorüber ist, denn wir hatten kaum warm – und es ist lau. Der Park ist ganz blau von all den Veilchen. Wir fühlen uns, obwohl man doch Glauben an die gerechte Sache aufbringen kann, zuweilen mutlos, nicht was das Endergebnis angeht, sondern wenn man an das Schlechte denkt, das diese Leute tun konnten. In solchen Momenten hören wir wie gebannt Radio, die Nachrichten – ganz so, wie ich früher jeweils um 11 Uhr nachts auf das Erscheinen des «Morgenbunds» wartete ... In solchen Momenten bin ich nicht fähig, zu arbeiten, und ich finde kindisch, was ich geschrieben habe. Glücklicherweise ging dies bislang jeweils immer wieder vorbei, und so komme ich mit dem «Gris» dennoch voran. Ich glaube schon, dass ich darin einige richtige und neue Dinge sagen kann, obwohl es mich immer noch sehr stört, dass mir sämtliche Dokumente fehlen. […]
Kahnweiler an Rupf, Le Repaire l’Abbaye – 14. April 1941
[…] Ich arbeite sehr fleissig an meinem Werk über Gris. Ich denke, du wärst zufrieden mit mir, mein lieber Mane, wenn ich dir vorlesen könnte, was bereits geschrieben ist. Momentan überarbeite ich erneut den zweiten Teil: «Juan Gris’ Werk», den einzigen, den ich bislang geschrieben habe. Er ist ca. 120 bis 130 Seiten lang. Der erste Teil wird «Juan Gris’ Leben» heissen, der dritte «Juan Gris’ Schriften».
In diesem zweiten Teil gibt es eine Einleitung von etwa zwanzig Seiten über die allgemeine Ästhetik usw., mit meinen alten Ideen, jedoch verbessert, ausgeschöpft, wie ich finde. Dann geht es um Gris’ Werk ab Madrid bis zu seinem Tod, mit Betrachtungen über die Kunst dieser Zeit im Allgemeinen. […]
Ich fühle mich sehr gut in Form. Es «läuft» gut, und ich bin der festen Überzeugung, doch so einige neue und wichtige Dinge hinsichtlich der Malerei unserer Zeit gefunden zu haben. Wie du sehr liebenswürdig sagtest: Ich glaube wirklich, dass ich der Einzige bin, der dieses Buch über Gris schreiben kann. […]
Kahnweiler an Rupf, Le Repaire l’Abbaye – 20. April 1942
[…] Körperlich geht es uns gut. Moralisch halten wir uns einigermassen, und wenn ich wach bin, bemerke ich nicht, wie angespannt meine Nerven sind, doch diese rächen sich nachts, wenn der Wille sie nicht mehr kontrolliert, durch eine entsetzliche Unruhe und schreckliche Träume usw. usw. usw.
Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel Glück ihr hattet, als Schweizer geboren zu werden! […]
Kahnweiler an Rupf, Le Repaire l’Abbaye – 6. November 1942
[…] Du hast mich gefragt, ob ich es nicht Léger und Masson gleichtun [und ins Exil gehen] möchte. Ich denke, jetzt ist es ohnehin zu spät.
Was will man machen: Ich habe beschlossen – wir, Lucie und ich, haben beschlossen –, nach bestem Wissen und nach reiflicher Überlegung, so zu handeln, wie wir es früher getan haben. Wir kamen zum Schluss, dass dies für uns richtig sei. Wir hatten bisher keinen Anlass, dies zu bereuen. Niemand weiss, was die Zukunft bringt, und erst später werden wir beurteilen können, ob die Entscheidung richtig oder falsch war. […]
Kahnweiler an Rupf, Le Repaire l’Abbaye – 9. Januar 1943
[…] Entschuldige, mein lieber Mane: Ich habe es versäumt, dir rechtzeitig zum Geburtstag zu gratulieren. Ich tue dies nun im Nachhinein, aber nicht weniger herzlich, in unser beider Namen, und wir senden euch die allerbesten Neujahrswünsche. Wann sehen wir uns wieder? 1943? Ich hoffe es. Wir würden euch auf jeden Fall gerne besuchen kommen, doch im Moment scheint mir dies unmöglich. […]
Kahnweiler an Rupf, St. Léonard – 2. Februar 1943
Meine guten Freunde
Da wir seit über einem Monat nichts von euch gehört haben, fürchten wir, dass der Postdienst mit der Schweiz unterbrochen wurde. Doch heute hat Elie einen Brief von euch mit Datum vom 2. Jan. erhalten. Wir haben uns gefreut, ihn zu lesen. Ich habe mich soeben bei der Post erkundigt, und man sagte mir, man könne in die Schweiz schreiben. Ich schreibe euch für heute eine Karte (ich habe den Eindruck, dass diese schneller ankommt als ein Brief). […]
Kahnweiler an Rupf, Le Repaire l’Abbaye – 23. Februar 1943
[…] Ich musste aufstehen und die Läden ein wenig schliessen, da mir von der Sonne vor meinem offenen Fenster so heiss geworden ist.
Voilà: Ich hoffe, dass mein Brief euch bald erreicht.
Richtet Gustie, Gustave und Elly herzliche Grüsse aus. Bleibt gesund und wisst, dass wir immer eure alten und treuen Freunde sind
Lucie und Heini
P. S. Wenn ich daran denke, dass wir uns seit 42 Jahren kennen und so lange befreundet sind, wir beiden, [ja], Mane und ich! Da fühlt man sich auch nicht jünger!
Kahnweiler an Rupf, St. Léonard – 9. Juni 1943
Meine guten Freunde
In letzter Zeit hat niemand aus der Familie von euch gehört. Ich hoffe, dass es euch gut geht und allein eine Verzögerung bei der Post der Grund ist. Wie auch immer möchte ich euch Neuigkeiten unsererseits nicht vorenthalten: Seit meinem letzten Brief sind ein Monat und ein Tag vergangen.
Zuerst zum Gesundheitlichen: Uns geht es gut. Meine Operation, von der die Rede war, wurde jedenfalls auf später verschoben, wahrscheinlich bis nach Kriegsende. [...]
Kahnweiler an Rupf, Paris – 16. Dezember 1944
Meine lieben Freunde
Momentan heisst es, dass man seit gestern Postkarten in die Schweiz schicken könne. Ich nutze diese Gelegenheit, um euch wissen zu lassen, dass wir wohlauf und seit zwei Monaten wieder zurück in Paris sind. Ich werde euch später von unseren Abenteuern mit der Gestapo und unserem anschliessenden klandestinen Leben in Lot-et-Garonne erzählen. Dank der bewundernswerten Energie Zettes floriert die Galerie. Lucie, die sich seit einem Jahr krank fühlte, musste am Montag leider operiert werden.
[…]
Ich muss euch leider mitteilen, dass Kandinsky, der seit Monaten krank war, verstorben ist. Ich war heute Morgen an seiner Beerdigung. Ich werde euch bald wieder schreiben. Wir grüssen euch herzlich
Heini