Themenwand
1 – «Wir umarmen Euch mit vielen Gefühlen»: eine Freundschaft
Hermann Rupf und Daniel-Henry Kahnweiler lernen sich um 1900 während ihrer Ausbildungszeit in Frankfurt kennen. In Paris entdecken sie in der gemeinsamen Freizeit ihre Liebe zur Kunst. Während Rupf 1905 in Bern als Partner ins Mercerie-Geschäft seines Schwagers eintritt, eröffnet Kahnweiler 1907 in Paris eine kleine Kunstgalerie. Rupf ist sein erster Kunde.
Kahnweiler nennt Rupf «Mane», Rupf den Freund in Paris «Heini». Heini verbringt auf Einladung von Mane die Zeit des Ersten Weltkrieges von 1914 bis 1920 in Bern im Exil. Nach Kahnweilers Rückkehr nach Paris kauft Rupf seinem Freund als Starthilfe ein Haus in Paris-Boulogne. Die Zinsen begleicht Kahnweiler über viele Jahre mit Kunstwerken.
Rupf und Kahnweiler bleiben sich lebenslang eng verbunden.
2 – «Nur muss man durchhalten können»: Kahnweiler als Kunsthändler
1907 eröffnet Kahnweiler seinen «Laden» – wie er die sechzehn Quadratmeter grosse Galerie an der Rue Vignon 28 in Paris nennt. Zuerst folgt er den Gepflogenheiten des Pariser Kunsthandels, indem er einzelne Ausstellungen organisiert und Kataloge produziert. Bald schon ändert er die Strategie und beschränkt sich darauf, seinen Bestand aufzuhängen. Gleichzeitig setzt er mit Erfolg vor allem auf ein internationales Publikum.
Kahnweilers Position als Verfechter des avantgardistischen Kubismus (Picasso, Braque, Derain, Léger und Gris) machen seine Galerie zu einer Adresse, die im gleichen Atemzug wie die bedeutendsten Galerien der französischen Hauptstadt genannt wird.
Im Ersten Weltkrieg werden Kahnweilers Bestände von den Franzosen als «Feindesgut» beschlagnahmt. 1920 muss er sein Geschäft in Paris praktisch von Null an wieder aufbauen, Kahnweilers Galerie firmiert nun als Galerie Simon.
Die Weltwirtschaftskrise nach 1929 bedroht den Kunsthandel erneut. Kahnweiler denkt bisweilen sogar daran, die Galerie zu schliessen. Vor allem seine internationalen Beziehungen verhelfen ihm, die Krise einigermassen durchzustehen. Und sein Freund Rupf hilft aus, soweit er kann.
1940, nach der Besetzung von Paris durch die deutsche Wehrmacht, droht 1941 die «Arisierung» und Liquidation der Galerie. Indem Kahnweilers Stieftochter Louise Leiris die Galerie unter ihrem Namen übernimmt, kann das Geschäft bis zum Kriegsende 1945 mehr schlecht als recht weitergeführt werden.
Nach 1945 führt Kahnweiler zusammen mit Louise Leiris die Galerie unter deren Namen weiter. Und wird erneut zu einem der bedeutendsten Kunsthändler und -vermittler seiner Zeit.
3 – «Für den Ruf der Sammlung von grossem Werte»: Rupf als Leihgeber
In den 1930er-Jahren tritt Rupf vermehrt als Leihgeber auf, teilweise durch die Vermittlung Kahnweilers. Dieser schreibt an Rupf in einem Brief, dass Leihgaben «für den Ruf der Sammlung von grossem Werte» seien. So leiht Rupf 1933 bei der Braque-Ausstellung in der Kunsthalle Basel, so im selben Jahr bei den Ausstellungen zu Gris und Léger im Kunsthaus Zürich wichtige Werke aus. 1936 gehört das Gemälde Maison à l’Estaque (1908) von Braque zu den zentralen Leihgaben für die epochale Ausstellung Cubism and Abstract Art im Museum of Modern Art in New York.
Und schliesslich kann Rupf trotz der herrschenden Unsicherheit noch im Herbst 1940, also bereits während des Krieges, seine Sammlung in der Kunsthalle Basel präsentieren.
4 – Hilfe in der Not: Louise und Michel Leiris
Das Ehepaar Leiris spielt im Leben von Kahnweiler eine wichtige Rolle. Louise – sie wird im Familienkreis Zette genannt – ist die Tochter von Kahnweilers Frau Lucie Godon, also die Stieftochter von Kahnweiler. Sie ist ihm in der Galerie Simon eine unentbehrliche Unterstützung.
Ihren Mann Michel, Schriftsteller und Ethnologe, hat sie bei den legendären «Dimanches de Boulogne», den geselligen Zusammentreffen der avantgardistischen Künstler:innen und Intellektuellen in Kahnweilers Haus in Boulogne kennen gelernt.
1941 droht die «Arisierung», also die Enteignung und Liquidation der «jüdischen» Galerie. Louise Leiris erreicht durch Verhandlungsgeschick, dass sie die Galerie als Geschäftsführerin unter ihrem «arischen» Namen Louise Leiris übernehmen kann. Sie führt die Galerie erfolgreich durch die Kriegswirren, wie sie am 16. Februar 1945 an Rupf schreibt: «Michel und ich sind seit 1940 in Paris geblieben. Ich habe die Galerie halten können, wie Sie wohl wissen. Ich habe während der ganzen Besetzungszeit alle unsere Maler, inklusive Klee, gezeigt.»
Louise und Michel Leiris sind für Kahnweiler und seine Frau Lucie während der Zeit der Vertreibung wichtige Bezugspersonen, die – teils unter Lebensgefahr – Informationen und Dokumente aus Paris nach Saint-Léonard-de-Noblat bringen.
In der Wohnung in Paris gewährt das Ehepaar Leiris politisch Verfolgten Unterschlupf. Durch diese Kontakte erfahren sie 1943, dass Kahnweilers Verhaftung und Deportation unmittelbar bevorsteht. Sie warnen ihn. Sie beschaffen ihm gefälschte Personenausweise und bringen diese nach Saint-Léonard-de-Noblat, in den mittlerweile ebenfalls von den Deutschen besetzten Süden. Michel Leiris organisiert das Versteck, das den Kahnweilers ab September 1943 das Untertauchen ermöglicht.
Nach 1945 führt Kahnweiler die enge Zusammenarbeit mit Louise fort. Weiterhin heisst die Firma «Galerie Louise Leiris». Diese wird zu einem Hotspot des internationalen Kunsthandels.
Die Galerie existiert bis heute, ist jedoch seit einigen Jahren nicht mehr aktiv.
5 – «Mission Dakar-Djibouti»: kolonialistische Wissenschaft
Kahnweilers Stiefschwiegersohn Michel Leiris ist Mitglied der «Mission Dakar-Djibouti». Die vom französischen Parlament finanzierte Expedition hat die Aufgabe, die Sammlung des Pariser Musée d'Ethnographie du Trocadero (heute Musée de l'homme) zu vervollständigen. Der kolonialistische Raubzug der Wissenschaftler sollte eine neue, umfassende Ausstellung der Kultur der unterworfenen Gebiete ermöglichen.
Die Mission dauert vom 31. Mai 1931 bis am 30. Januar 1933 und führt vom Westen Afrikas nach Osten. Am Ende bringen die Wissenschaftler mehr als 3500 Objekte nach Frankreich. Zur Ausbeute gehören auch 6000 Fotografien, 1600 Meter Filmmaterial und 1500 Seiten Manuskripte.
Kahnweiler schreibt am 7. März 1933 an Rupf: «Michel ist zurueck: gesund und munter. Nun kommt die literarische Arbeit. Er will sich ganz der Ethnographie widmen. Sein ‹Journal›, das er taeglich schrieb, ist famos: nur ist es so ‹scandaleux›, so aufrichtig, dass es seiner ethnographischen Laufbahn schaden wird.»
Am 3. Juli 1933 folgt eine Nachbemerkung: «In der neuen Zeitschrift Minotaure ist das 2. Heft ueber die «Mission Dakar-Djibouti». Zette [Louise Leiris] wird es Euch schicken, da Michel ein paar Exemplare hat.»
So ist anzunehmen, dass die Zeitschrift Minotaure sich ebenso in der Rupf’schen Bibliothek befand wie das Reise-Tagebuch von Michel Leiris, das 1934 unter dem Titel L’Afrique fantôme erschien. Leiris geht darin schonungslos mit den kolonialistischen Zwangsmethoden ins Gericht, die die Ethnografen der Mission anwendeten.
Dass Objekte aus solchen kolonialistischen Beutezügen auch Eingang in europäische Kunstsammlungen fanden und dass sie rein formalästhetisch in Bezug auf kubistische oder andere avantgardistische Formensprachen zu Kunstobjekten wurden, das zeigt die Maske, die einst Teil der Sammlung Rupf war.
6 – Kriegsterror: Pablo Picasso & Guernica
Paris, 25. Mai 1937: Eröffnung der legendären Exposition Internationale des Arts et Techniques dans la Vie Moderne. Sie zieht bis am 25. November 34 Millionen Besucher an. Rupfs besuchen sie im September.
Im spanischen Pavillon zeigt Picasso erstmals das Monumentalgemälde Guernica, eine Auftragsarbeit für die spanisch-republikanische Regierung, die im Kampf gegen die faschistischen Truppen von General Franco steht. Das Gemälde klagt den Terrorangriff deutscher Flieger auf die baskische Stadt Guernica an, zeigt die zivilen Opfer und die Leiden der Menschen im Spanischen Bürgerkrieg. Dieser ist längst zum Waffenplatz internationaler Interessen geworden – eine brutale Vorahnung auf den Zweiten Weltkrieg.
Kahnweiler berichtet Rupf am 17. Juli 1937 knapp: «Zuvorderst das gewaltige, ergreifende Bild von Picasso im Pavillon d’Espagne, sowie Skulpturen von Picasso. Das Bild (ca. 10 m breit) ist, obzwar absolut nicht anekdotisch, doch im Geiste Guernica usw.»
7 – Sympathie mit dem Front populaire
Mai 1936: In Frankreich gewinnt der Front populaire die Wahlen. Am 5. Juni bildet Léon Blum als erster sozialistischer Premierminister die neue Regierung. Das Programm: Einführung der 40-Stunden-Woche, gesetzlicher Ferienanspruch, Anerkennung der Gewerkschaften, Einrichtung von Betriebsräten und Streikrecht.
Kahnweiler schreibt am 16. Juni 1936 an Rupf: «Was die politische Lage hier betrifft, so ist es enorm schwer, den Propheten zu machen. Es ging Alles sehr ruhig, ohne alle Zwischenfaelle vor sich. Was nun die Folgen sein werden, kann man nicht wissen. Vielleicht gelingt Blums ‹New Deal›. Die Gefahr ist natuerlich, dass anziehende Preise die Arbeiterschaft in Kuerze um die heute eroberten Vorteile bringen, und dass dann neue Streiks ausbrechen usw. Jedenfalls: wenn Blums Experiment missling, so ist es die letzte gesetzmaessige Regierung in Frankreich. Nachher kommt Kommunismus oder Fascismus...»
Kahnweilers Zeilen drücken viel Sympathie für das sozialdemokratische Regierungsprogramm des Sozialisten Blum aus. Dass auch Rupf dem teilweise zustimmt, ist anzunehmen: Der erfolgreiche Kaufmann ist seit 1905/06 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, Sektion Bern-Länggasse; er schreibt von 1909 bis 1931 für die sozialdemokratische Tageszeitung Berner Tagwacht über bildende Kunst und Musik. Genosse Rupf bleibt bis zu seinem Tod 1962 ein treues Mitglied der SPS.
8 – Devisen für das «Dritte Reich»? Die Auktion in Luzern 1939
Am 30. Juni 1939 veranstaltet die Galerie Fischer in Luzern im Auftrag des deutschen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda die Auktion Gemälde und Plastiken Moderner Meister mit 125 Werken «entarteter» Kunst, alle beschlagnahmt aus deutschen Museen.
Kahnweiler und Rupf sind unsicher, ob sie überhaupt an der Auktion teilnehmen sollen. Kahnweiler entscheidet sich dennoch hinzugehen – «um die Preise am Steigen zu hindern». Rupf möchte die Auktion boykottieren – «damit die Bande nur Spesen und keinen Verkauf hätte. Das wäre herrlich.»
Trotz seines Widerwillens erwirbt Rupf schliesslich doch noch zwei Werke, allerdings aus dem Nachverkauf der Auktion:
- die Nr. 80, August Macke, Gartenrestaurant, für Fr. 900.–
- die Nr. 81, Ewald Mataré, Liegende Kuh, für Fr. 480.–
9 – Paris unter dem Hakenkreuz
«Wir erleben entscheidende Stunden. Das Schicksal unserer Zivilisation, unsere Welt, wir alle stehen auf dem Spiel. Ich behalte das volle Vertrauen.»
Das schreibt Kahnweiler am 27. Mai 1940 an Rupf – nachdem die deutsche Wehrmacht in der «Westoffensive» am 10. Mai Belgien, Luxemburg und die Niederlande überfallen hat und dann in Frankreich rasch gegen Paris vorstösst.
Die französische Regierung erklärt die Hauptstadt am 13. Juni zur «offenen Stadt», die nach der Haager Landkriegsordnung nicht verteidigt wird. Die Regierung bringt sich in Bordeaux in Sicherheit.
Am 14. Juni 1940 marschieren die deutschen Truppen in Paris ein.
Kahnweiler kann sich wenige Tage zuvor mit seiner Frau Lucie im südlichen Limousin vorläufig in Sicherheit bringen.
Am 16. Juni wird Maréchal Pétain zum Regierungschef der französischen Republik ernannt und ersucht um einen Waffenstillstand mit der deutschen Wehrmacht. Dieser wird am 22. Juni unterzeichnet.
Frankreich wird in eine deutsche Besatzungszone im Norden – inklusive Paris – und eine «freie Zone» geteilt. Dort errichtet Pétain den autoritären «État français», der eng mit dem «Dritten Reich» kollaborieren muss und will.
Nach der Landung der Alliierten in Nordafrika im November 1942 wird auch die «freie» Südzone von der Wehrmacht besetzt.
Im August 1943 schliessen sich die verschiedenen Verbände der Résistance zusammen und intensivieren den Kampf gegen die Besatzungstruppen.
Am 6. Juni 1944 landen die alliierten Truppen in Nord-, am 15. August in Südfrankreich. Am 25. August wird Paris befreit.
Kahnweiler und seine schwer kranke Frau Lucie kehren im Oktober aus ihrem Versteck nach Paris zurück.
10 – Das Régime von Vichy: der autoritäre «État français»
Am 22. Juni 1940 unterzeichnet der 84-jährige Maréchal Philippe Pétain den Waffenstillstand zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich. Damit wird Frankreich geteilt.
In der «freien Zone» im Süden (40 Prozent Frankreichs), in diesem Rumpffrankreich, dem «État français» mit dem Kurort Vichy als Hauptstadt, ist Pétain der autoritäre «Chef de l’État». Die «Révolution nationale» wird proklamiert; sie bricht radikal mit den republikanischen Traditionen Frankreichs, also auch mit dem liberalen Asylrecht, und setzt statt auf «Liberté, Égalité, Fraternité» auf die Devise «Travail, Patrie, Famille» – kurz: Es wird ein quasi-faschistischer Staat installiert, der eng mit der deutschen Besatzungsmacht kollaboriert.
So sieht Artikel 19 des Waffenstillstandsabkommens vor, dass Frankreich alle vom Deutschen Reich benannten deutschen Staatsbürger, die sich auf französischem Territorium befinden, auszuliefern hat.
Vichy-Frankreich erlässt zudem 64 antisemitische Verordnungen und entzieht so den im «freien» Süden lebenden Jüdinnen und Juden mehr und mehr ihre Rechte.
Während Pétain mit Deutschland über einen Waffenstillstand verhandelt, hält General Charles de Gaulle am 18. Juni 1940 aus dem Londoner Exil eine Radioansprache an das französische Volk, die von der BBC ausgestrahlt wird.
Wenige Tage nach dem Abschluss des Waffenstillstands fasst de Gaulle die in England verbliebenen 110’000 französischen Soldaten zu den Forces françaises libres zusammen und proklamiert die Fortsetzung des Krieges an der Seite Grossbritanniens und später der Streitkräfte der Alliierten.
11 – Entrechtet, verfolgt, ermordet
Kahnweiler versteht sich als Deutscher – und als Franzose. Bis 1933 ist es für ihn unbedeutend, dass er aus einer assimilierten jüdischen Familie stammt, die seit dem 17. Jahrhundert in Rockenhausen (Pfalz) beheimatet ist.
Obwohl längst in Paris zuhause, beobachtet er das politische Geschehen in Deutschland nach 1933 aufmerksam, nicht zuletzt deshalb, weil seine Familie, viele deutsche Freunde und Bekannte als Jüdinnen und Juden und/oder als Antifaschist:innen unmittelbar von den Diskriminierung-, Entrechtungs, und Verfolgungsmassnahmen des Hitler-Regimes betroffen sind.
Bereits am 7. März 1933 schreibt Kahnweiler an Rupf: «Was soll ich von Deutschland sagen? Es ist eine Schmach und eine Schande. Ich habe geglaubt, dass wir in einer Welt lebten, in der ich, da als Deutscher geboren, Deutscher bleiben koennte. Aber damit ist’s nun aus. Was bleibt mir uebrig, als Franzose zu werden? Dieses Volk, trotz Allem, ist tausendmal mehr das meine als das Volk Hitlers.»
Nach dem 14. Juni 1940 gelten in der deutschen Besatzungszone Frankreichs die deutschen «Rassengesetze». Die Geschäfte von Jüdinnen und Juden müssen als «jüdisch» gekennzeichnet werden. Das betrifft auch die Galerie Simon von Kahnweiler in Paris.
Kahnweiler unterliegt ab 1941 der Meldepflicht für «Israeliten». Die französische Staatsbürgerschaft wird ihm aberkannt.
Im Sommer 1941 rettet Kahnweilers Stieftochter Louise Leiris die Galerie vor der drohenden «Arisierung».
Am 27. März 1942 verlässt ein erster Zug mit deportierten Jüdinnen und Juden Frankreich in Richtung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. 73 weitere Züge werden bis im Sommer 1944 folgen. Von den 330'000 Jüdinnen und Juden, die in Frankreich leben, werden 76'000 deportiert, von ihnen überleben bis 1945 nur 2500.
Kahnweiler kann im September 1943 mit knapper Not der Verhaftung durch die Gestapo entrinnen.
12 – «Das Paradies im Schatten der Krematorien»
Flucht und Zuflucht – Am 14. Juni 1940, am Tag, als die deutsche Wehrmacht Paris besetzt, schreibt Kahnweiler an Rupf aus Saint-Léonard-de-Noblat: «Wir haben Paris am letzten Dienstagmorgen verlassen, im Wagen, und sind ohne irgendeinen Zwischenfall am Abend hier angekommen […] Ja also, voilà… Welche unvorhersehbaren Ereignisse, unerhört, unglaublich! Wir sind also hier in Le Repaire, zusammen mit den Lascaux. Wann und wie werden wir unser Haus in Boulogne wieder sehen, wann die Galerie?»
Daniel-Henry und Lucie Kahnweiler werden sich bis im September 1943 an diesem Zufluchtsort im Limousin aufhalten, also in der «unbesetzten Zone». In der Nähe sind immer die Lascaux: Elie, der Maler-Illustrator, und Béro, die Schwester von Lucie Kahnweiler.
Landleben – «Aber», so schreibt Kahnweiler an Rupf am 14. April 1941 über den vergangenen Winter «haben wir uns immer mehr oder weniger mit Holz aufwärmen können. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben Erfrierungen – an den Ohren und an der linken Hand. Das materielle Leben hier, auf dem Land, ist weiterhin gut möglich, aber in den Städten ist es sehr schwer.»
Juan Gris – Intensiv beschäftig er sich in den Jahren der Zuflucht mit seiner Arbeit an einem, an dem Buch über Juan Gris. Am 30. November 1940 schreibt er an Rupf: «Ich vermisse dich! Ich hätte Dir meine Aufzeichnungen gerne zum Lesen gegeben, und Dein Urteil hätte mir, wie immer schon, geholfen und mich bestärkt! Auf jeden Fall hilft mir dieses Werk, den Schrecken und die Traurigkeit der Zeit zu vergessen, und die Zeit vergeht für mich so immer schnell.»
Bedrohung – Kahnweiler verfolgt aufmerksam, wie viele seiner Künstlerfreunde angesichts der deutschen Besatzung und Repressionen – auch des Vichy-Regimes – in die Emigration gehen. So schreibt er am 28. Februar 1941 an Rupf: «Eine Sache bekümmert und deprimiert mich oft: der Exodus eines Teils der französischen Intelligenz in die Vereinigten Staaten. Dieses Milieu von Paris, wird es jemals seinen Glanz wiedererlangen? Ich finde es für Europa unheimlich, dass nach Deutschland, Österreich, Italien, der Tschechoslowakei auch Frankreich sich seiner wertvollen Menschen entledigt.»
Untertauchen – Gewarnt und bereits mit falschen Papieren versorgt, können Kahnweilers Anfang September 1943 knapp der Verhaftung durch die Gestapo entgehen. Sie verabschieden sich vom Bürgermeister von Saint-Léonard-de-Noblat und dieser deckt ihre Abreise.
Über Limoges gelangen sie ins südlich gelegene Département Lot-et-Garonne, in das kleine Dorf Lagupie. Dort leben sie – unter dem falschen Namen Monsieur et Madame Henri-Georges Kersaint – unentdeckt bis zu ihrer Rückkehr ins befreite Paris im Oktober 1944.
Im Rückblick umschreibt Kahnweiler 1958 diese Zeit der Zuflucht im Le Repaire paradox und zugespitzt als «Paradies im Schatten der Krematorien». Er hatte das Glück, zufällig der Ermordung in einem Konzentrationslager zu entkommen. Und verbrachte trotz Angst und Entbehrungen produktive Jahre im Limousin.
13 – Pulvermilch
Seit 1940 haben Rupfs mehrmals Lebensmittel an Kahnweilers geschickt. Die Situation – insbesondere bezüglich der Lebensmittelversorgung in Paris – verschlechtert sich dramatisch. Kahnweiler schreibt am 23. Februar 1943 eindringliche Zeilen an Rupf: «Zette [Louise Leiris] lässt Euch um Folgendes bitten. In Paris gibt es natürlich überhaupt keine Milch. Sie kennt jedoch Menschen, die Milchpulver von ihrer Familie in der Schweiz bekommen. Wäre es möglich, dass Ihr etwas schicken könntet? Ihr würdet den Leiris einen grossen Dienst erweisen und sie wären Euch sehr dankbar, aber ich weiss natürlich nicht, ob das möglich ist oder ob sie Schweizer Staatsbürger sein müssen, um diese Sendungen zu erhalten. Ihr wärt tausendfach lieb, wenn Ihr Euch in dieser Sache erkundigen könntet. Seid unserer Dankbarkeit gewiss. Die Sendung kann an das Büro von Zette geschickt werden.»
14 – Verschollen: Henri Kahnweiler und Elie Lascaux
Der Krieg tobt weiter, ganz Frankreich ist 1943 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Hermann und Margrit Rupf wissen es aus den Nachrichten. Ab Mitte August 1943 erreichen kein Brief, kein Lebenszeichen aus Frankreich Rupfs in Bern. Sie wissen nicht, wo Kahnweiler ist, ob er noch lebt. Und wie es um all die anderen Freunde und Freundinnen steht. Die Sorge ist gross.
Rupf richtet sich in der Verzweiflung an das Rote Kreuz in Genf. Er schickt am 5. Dezember 1943 eine Anfrage an die Agence centrale des prisonniers de guerre, also an den internationalen Suchdienst für Kriegsgefangene.
Am 21. Dezember bestätigt die Agence den Erhalt des Schreibens und bittet für die weiteren Abklärungen die Bekanntgabe der Nationalität der beiden Gesuchten. Bereits am 25. Dezember schreibt Rupf an die Agence und erklärt, dass er zwischenzeitlich von seinen Freunden Nachrichten erhalten habe. Um diese nicht zu gefährden, bittet Rupf, keine weiteren Nachforschungen mehr zu unternehmen.
Auf welch komplizierten Wegen dieses Lebenszeichen nach Bern gelangen konnte, ist unbekannt.
Der erste Brief von Kahnweiler erreicht Rupf ein Jahr später, am 16. Dezember 1944. Kahnweiler meldet ganz knapp, dass sie wieder sicher im befreiten Paris angekommen seien.
Die Kartei der 1939 gegründeten Agence centrale des prisonniers de guerre des Roten Kreuzes umfasst bis Kriegsende 25 bis 36 Millionen Karteikarten. Die Agence vermittelte 120 Millionen persönliche Nachrichten.
15 – Mai 1945: Frieden und unendliche Trauer
Zurück in Paris wohnen Lucie und Daniel-Henry Kahnweiler bei Louise und Michel Leiris an der Rue des Grands Augustins.
Vom 16. April bis 2. Mai 1945 findet die Schlacht um Berlin statt – der letzte grosse Kampf im Zweiten Weltkrieg in Europa. Am 8. Mai 1945 kapituliert das Deutsche Reich.
Nur wenige Tage später, am 14. Mai, stirbt Lucie Kahnweiler nach längerer schwerer Krankheit. Kahnweiler schreibt am 23. Mai an Rupf: «Ich habe einen Teil meiner selbst verloren. Wir waren so vereint, dass wir eins wurden. Die Jahre im Le Repaire, die Jahre der Einsamkeit – für uns zwei, glaubt es mir, waren Jahre des Glücks, trotz der Gefahr. Ich bin wie amputiert.»
Zette und Michel Leiris holen mit einem Lastwagen die letzten Kunstwerke, die sich noch im Limousin befinden, zurück nach Paris.
Im Dezember findet die erste Ausstellung nach dem Krieg in der Galerie Louise Leiris statt: André Masson: œuvres raportées d'Amérique, 1941—1945.
Kahnweiler schenkt Rupf die Masson-Lithografie Portrait de Henry Kahnweiler – der erste Zuwachs zur Sammlung Rupf nach den langen Jahren des Krieges.
16 – Bisher unveröffentlicht: der Briefwechsel zwischen Daniel-Henry Kahnweiler und Hermann Rupf
Im Archiv der Hermann und Margrit Rupf-Stiftung befindet sich ein bisher ungehobener Schatz, ein einzigartiges Zeugnis der Zeit- und Kunstgeschichte: der Briefwechsel zwischen dem Pariser Kunsthändler und -vermittler Daniel Henry Kahnweiler und dem Berner Kaufmann und Kunstsammler Hermann Rupf. Der Briefwechsel ist das sehr persönliche Dokument einer lebenslangen Freundschaft, die 1901 begann.
Die Korrespondenz vor 1928 ist leider nicht erhalten. Der Briefwechsel setzt also 1929 ein und dauert bis 1962, dem Todesjahr von Hermann Rupf. Erstmals publiziert werden hier die Briefe vom Januar 1933, dem Beginn der NS-Diktatur, bis zum Mai 1945, dem Monat des Friedens in Europa – und des Todes von Kahnweilers Frau Lucie.
In diesem Zeitraum sind im Archiv 169 Briefe von Kahnweiler an Rupf erhalten, darunter auch jene aus den Jahren nach der im Juni 1940 erfolgten Flucht Kahnweilers aus Paris. Von Rupf liegen einzig 25 Briefe vor – es sind Durchschläge, die Rupf für sich selbst gemacht hat, aus welchen Gründen auch immer.
Rupfs übrige Briefe an Kahnweiler liegen wohl immer noch im Archiv der Galerie Louise Leiris in Paris, sind jedoch nicht zugänglich.
Besondere Merkmale
• Die Briefe von Kahnweiler sind bis zum Brief vom 27. Mai 1940 alles mit Schreibmaschine verfasste Typoskripte.
• Kahnweilers Briefe nach der Flucht aus Paris im Juni 1940 sind von Hand mit Füllfeder geschrieben.
• Rupfs Briefe sind durchgehend Typoskripte auf Durchschlagpapier, ohne Briefkopf und Signatur.
• Bis zum Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 3. September 1939 sind sowohl die Briefe Kahnweilers als auch diejenigen von Rupf auf Deutsch verfasst. Danach wechseln beide auf Französisch – damit Kahnweiler (seit 1937 Bürger Frankreichs) nicht als «feindlicher Ausländer» verdächtigt werden könnte.
• Die Mehrzahl der Briefe ist datiert, Poststempel fehlen jedoch, da die Briefumschläge nicht aufbewahrt worden sind; Ausnahme sind jene Briefe, wo Brief und Umschlag eine Einheit sind.
• Spuren der rigorosen Zensur (Stempel, geschwärzte Passagen) der Dienststellen des Vichy-Régimes lassen sich in den Briefen nach dem Juni 1940 nicht feststellen.
• Zwischen dem 16. August 1943 und dem 16. Dezember 1944 gibt es keine Briefe. Kahnweiler flieht am 5. September 1943 vor der Gestapo und taucht unter. Erst nach der Befreiung von Paris am 25. August 1944 kehren Kahnweiler und seine Frau Lucie im Oktober aus dem südwestfranzösischen Untergrund wieder nach Paris zurück.