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Ernst Ludwig Kirchner und der Antisemitismus

Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) äusserte sich in Briefen und in seinem Davoser Tagebuch wiederholt zu Zeitgenossen, Kunst und Gesellschaft. Dabei finden sich sowohl Passagen, in denen er antisemitische Stereotype bedient, als auch Stellen, in denen er jüdische Freunde und Förderer ausdrücklich wertschätzt. Kirchners Haltung gegenüber Jüdinnen und Juden war somit ambivalent und von Widersprüchen geprägt.

1921 lehnte Kirchner eine Beteiligung an der Ausstellung Moderne Deutsche Malerei mit folgenden Worten ab: «Ich halte es für meine Pflicht selbst gegen meinen eigenen Vorteil […] gegen die skrupellose spekulative Ausschlachtung der Kunst im Sinne einseitiger nationaler Wichtigtuerei und gegen die ordinär jüdische Geldmacherei in Kunstdingen zu kämpfen.»[1] Hier verband er seine Kritik am Kunstmarkt mit dem antisemitischen Klischee des «geldgierigen Juden». Auch in einem Brief von 1925 an seine Lebenspartnerin Erna Schilling griff Kirchner ein abwertendes Bild auf: «Mich friert in der Kälte der Menschen und dem Mauscheln der Juden.»[2]

Antisemitische Denkweisen waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Europa weit verbreitet – auch in künstlerischen und intellektuellen Kreisen. Ideen von nationaler Erneuerung gingen dabei häufig mit der Abwertung jüdischer Mitbürger einher. Schriften wie Richard Wagners Das Judenthum in der Musik (1869) prägten solche Vorstellungen nachhaltig. Kirchners Sprache lässt sich in diesem ideologischen Umfeld verorten. Den Begriff «Jude» verwendete er oft pauschal als abwertende Bezeichnung für vermeintlich unredliche Geschäftsleute – unabhängig von deren tatsächlicher Herkunft oder Religionszugehörigkeit. Damit reproduzierte er gängige antisemitische Stereotype, die zur gesellschaftlichen Ausgrenzung jüdischer Menschen beitrugen.

Neben diesen abwertenden Äusserungen finden sich bei Kirchner auch gegenteilige Töne. Als der jüdische Kunsthändler Ludwig Schames 1922 überraschend verstarb, veröffentlichte Kirchner in der Zeitschrift Der Querschnitt einen Nachruf, begleitet von einem Porträt, das er als Holzschnitt geschaffen hatte: «Das war der Kunsthändler Ludwig Schames, der feine uneigennützige Freund der Kunst und der Künstler. In edelster Weise hat er mir und manchen anderen Schaffen und Leben ermöglicht. Wir verlieren in ihm den Menschen, der einzigartig wie ein guter Vater, ein Freund, ein feinsinnig verständnisvoller Förderer der Kunst unserer Zeit war.»[3]

Gegenüber Bekannten betonte Kirchner mehrfach, dass es jüdische Kunsthändler gewesen seien, die das Risiko auf sich genommen hatten, Werke von damals noch unbekannten Künstlern wie ihm zu zeigen. In einem Brief von 1929 an Elfriede Knoblauch wandte er sich gegen antisemitische Vorwürfe im Kunsthandel und schilderte eine persönliche Erfahrung mit der Galerie Cassirer in Berlin: «Auch muss ich sagen, dass Du nicht recht hast, die Juden für die Zustände verantwortlich zu machen, ich kann Dir aus 30 jähriger Erfahrung sagen, dass die christlichen Händler viel viel schlimmer sind als der schlimmste Jude. Man darf gut und schlecht überhaupt nicht aus der Rasse der Menschen herleiten, es giebt […] in allen sehr edle und sehr schlechte Naturen. […] Die jüdische Firma Cassirer […] machte 2 grosse Ausstellungen von meinen Arbeiten mit mehreren tausend Mark Unkosten [... und trug den] Verlust [...] ohne ein Wort des Vorwurfes [...].»[4] Kirchner verteidigt hier jüdische Akteure und betont individuelle Integrität über ethnische oder religiöse Zuschreibungen. Zugleich macht seine Sprache deutlich, wie tief er in einem rassifizierenden Weltbild verhaftet blieb.

Auch in späteren Jahren schwankte Ernst Ludwig Kirchners Haltung zwischen kritischer Reflexion und tradierten Klischees. In einem Brief an die Schriftstellerin Annette Kolb aus dem Jahr 1926 sprach er von der «Notwendigkeit einer Lösung der question juive» – einem damals bereits stark antisemitisch belasteten Begriff. Darin warnte er vor pauschalen Schuldzuweisungen an jüdische Menschen, unterstellte ihnen jedoch zugleich eine Mitschuld: «Denn es droht die Gefahr, dass den Juden wieder einmal alle Schuld an dem Elend in die Schuhe geschoben wird, was sicher nicht wahr ist, obwohl sie ebenso Schuld haben, wie alle anderen. Wenn jeder an sich selbst arbeitete, um zum guten wirklichen Menschen zu werden, wäre die Frage leicht zu lösen, aber das ist so sehr schwer und fast unmöglich.»[5]

Abschliessend lässt sich festhalten: Kirchner lässt sich nicht als ideologisch gefestigter Antisemit charakterisieren. Seine Aussagen über Juden sind jedoch antisemitisch, auch wenn er zugleich jüdische Freunde und Weggefährten verteidigte und nach 1933 wiederholt sein Bedauern über die Verfolgung jüdischer Menschen zum Ausdruck brachte. Diese Ambivalenz steht exemplarisch für die Widersprüchlichkeit vieler Kunstschaffender und Intellektueller jener Zeit. Eine historische Einordnung muss sie sichtbar machen – nicht zur Entschuldigung, sondern für eine differenzierte Bewertung.

 

Literatur:

Hans Delfs (Hg.), Ernst Ludwig Kirchner. Der gesamte Briefwechsel. «Die absolute Wahrheit, so wie ich sie fühle», 4 Bde., Zürich 2010.

Lothar Grisebach (Hg.), Ernst Ludwig Kirchners Davoser Tagebuch, Ostfildern-Ruit, 1997.

Eberhard Kornfeld, Ernst Ludwig Kirchner. Nachzeichnung seines Lebens, Bern 1979.

Gertrud Knoblauch (Hg.), Ernst Ludwig Kirchner, Briefwechsel mit einem jungen Ehepaar, 1927 – 1937. Elfriede Dümmler und Hansgeorg Knoblauch, Bern 1989.

Christian Saehrendt, Ernst Ludwig Kirchner. Bohème-Identität und nationale Sendung, Frankfurt a.M. 2003.
 


[1] Ernst Ludwig Kirchner an Kunsthalle Basel, 29.08.1921, in: Delfs 2010, S. 504–505, Nr. 969, hier S. 504. Der Brief war an Wilhelm Barth gerichtet, den damaligen Leiter der Kunsthalle Basel.

[2] Ernst Ludwig Kirchner an Erna Schilling, 28.12.1925, in: Delfs 2010, S. 982–983, Nr. 1623, hier S. 982.

[3] Ernst Ludwig Kirchner, Nachruf, in: Der Querschnitt, 1922, Bd. 2, Heft 3 [Weihnachtsheft], S. 156–157.

[4] Ernst Ludwig Kirchner an Elfriede und Hansgeorg Knoblauch, 14.07.1929, in: Knoblauch 1989, S. 85. Elfriede war die Ehefrau des Architekten Hansgeorg Knoblauch. Sie lernte Kirchner während eines Kuraufenthalts in Davos 1927 kennen und blieb bis zu ihrem Tod 1937 mit ihm in Kontakt.

[5] Ernst Ludwig Kirchner an Annette Kolb, 22.06.1926, in: Delfs 2010, S. 1063–1064, Nr. 1722, hier S. 1064.

Die Darstellung minderjähriger Modelle in den Werken Ernst Ludwig Kirchners

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchten Kirchner und die Künstlergruppe Die Brücke nach neuen Ausdrucksformen jenseits akademischer Regeln. Sie stellten den menschlichen Körper (vor allem den weiblichen) ins Zentrum, den sie möglichst natürlich und «unverfälscht» in «freien», «ursprünglichen» Posen, fern jeder «Atelierdressur» darstellen wollten.[1] Dafür arbeiteten sie oft mit Laienmodellen aus ihrem Umfeld, darunter auch Kinder und Jugendliche.

Zu den bekanntesten jungen Modellen Kirchners zählen Lina Franziska «Fränzi» Fehrmann sowie Marcella Albertine Olga Sprentzel. Bei Beginn der Zusammenarbeit war Fränzi knapp 9, Marcella 14 Jahre alt. Zwischen 1909 und 1912 entstanden zahlreiche Zeichnungen, Druckgrafiken und Gemälde, die die Mädchen in Alltagsszenen, beim Spielen, aber auch unbekleidet zeigen, teilweise mit weit gespreizten Beinen oder nackt auf einem ebenfalls entblössten Mann sitzend.[2] Aus heutiger Sicht wirken diese Darstellungen durch ihre erotische Anmutung problematisch.

Gegenüber seinem Künstlerkollegen Erich Heckel äusserte sich Kirchner zudem in einer Weise, die nahelegt, dass er in den Körpern der jungen Modelle nicht nur neutrale Studienobjekte sah, sondern auch eine erotische Projektionsfläche. So schrieb er ihm beispielsweise in einem Brief im Frühjahr 1910: «Marcella ist jetzt ganz heimisch geworden und entwickelt feine Züge. Wir sind ganz vertraut geworden, liegen auf dem Teppich und spielen. Es liegt ein grosser Reiz in einem solchen reinen Weibe[,] Andeutungen, die einen wahnsinnig machen können. Toller als in den älteren Mädchen. Freier, ohne dass doch das fertige Weibe verliert. Vielleicht ist manches bei ihr fertiger als bei den reiferen und verkümmert wieder. Der Reichtum ist sicher grösser jetzt.»[3]

Einige Interpretationen verstehen Kirchners Sprache im historischen Kontext als Ausdruck einer ästhetischen Haltung zur «ursprünglichen Natürlichkeit» und seine Werke als bewussten Gegenentwurf zu akademischen und bürgerlichen Normen. [4] Andere hingegen erkennen darin eine Sexualisierung der Kinder.

Diese Form der ästhetisch-erotischen Ausbeutung Minderjähriger rückte in den letzten Jahren im Kontext der Kirchner-Rezeption in den Fokus– so etwa 2010 durch Felix Krämer, der die grosse Retrospektive zum Werk von Ernst Ludwig Kirchner im Frankfurter Städel kuratierte: «Die Künstler nutzten die Unerfahrenheit und Unschuld der Kinder aus, die ihrer Vorstellung von Ursprünglichkeit am nächsten kamen»[5], schrieb er im Ausstellungskatalog. Was damals als Teil eines avantgardistischen Kunstideals galt, erscheint heute als Grenzüberschreitung – gerade weil Kinder besonders schutzbedürftig sind.

Auch wenn es keine Hinweise auf bereits damals strafbare Handlungen gibt, werfen Kirchners Darstellungen und der Umgang der Brücke-Künstler mit den jungen Modellen bis heute kritische Fragen auf: Welche Machtverhältnisse prägten diese Konstellationen? Wie beeinflussten sie die Darstellungen? Konnten die Kinder in dieser sensiblen Lebensphase die Tragweite ihrer Zustimmung erfassen – und haben sie überhaupt zugestimmt?

Die Kulturwissenschaftlerin Irene Berkel, die sich intensiv mit Missbrauchsdiskursen befasst hat, fasst es so zusammen: «So sehr einige Kunsthistoriker bemüht sein werden, Beweise zu finden, die den vagen Verdacht in hartes Faktum verwandeln sollen, so wenig lässt sich die Sache klären.»[6] Denn die überlieferten Quellen stammen fast ausschliesslich von den Künstlern selbst, nicht von den Kindern. Unstrittig ist jedoch, dass zwischen den Künstlern und den minderjährigen Modellen ein deutliches Macht- und Abhängigkeitsverhältnis bestand, das Ausbeutung begünstigte. Die Mädchen stammten aus einfachen Verhältnissen, während Kirchner und seine Kollegen aus bürgerlichen Familien kamen.

Kirchner zählt aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts zu den herausragenden Persönlichkeiten der Kunst des 20. Jahrhunderts. Gerade deshalb betrachten wir ihn besonders genau und messen sein Handeln an unseren heutigen Massstäben. Die Frage, ob sein Verhalten gegenüber den minderjährigen Modellen Grenzen überschritt, bleibt jedoch – solange wir keine weiteren Fakten haben – offen.

 

Literatur:

Irene Berkel, Genealogische Verwirrungen, in: Norbert Nobis (Hrsg.), Der Blick auf Fränzi und Marcella, Hannover 2011, S. 123–130.

Jenny Graser, Der transponierte Akt – Ernst Ludwig Kirchners Doppelbildnis Fränzi vor geschnitztem Stuhl, in: Annick Haldemann (Hrsg.), Kirchner neu denken, München 2019, S. 175–185.

Felix Krämer, E. L. Kirchner. Im Widerspruch, in: Kirchner (Ausst.-Kat. Städel Museum), Berlin 2010, S. 13–33.

Regina Klein, Ganz nah dran. Porträts von Fränzi und Marzella, in: Magdalena M. Moeller (Hrsg.), Fränzi und Marzella – Wer sie waren und wie sie sind. Auf Spurensuche im Brücke-Museum, Heidelberg 2014, S. 90–94.

Jill Lloyd, Sexualität und Nacktheit, in: Annick Haldemann (Hrsg.), Kirchner neu denken, München 2019, S. 151–163.

Norbert Nobis, Mein Blick auf Fränzi und Marcella, in: Norbert Nobis (Hrsg.), Der Blick auf Fränzi und Marcella, Hannover 2011, S. 29–36.

Gerd Presler, E. L. Kirchner, Seine Frauen, seine Modelle, seine Bilder, München/New York 1998, S. S. 43–45.

Roland Scotti, Die Brücke-Maler und ihre Frauendarstellungen, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Bd. 53: Sonderband „Gruppe und Individuum in der Künstlergemeinschaft Brücke. 100 Jahre Brücke – Neueste Forschung“, Dresden 2008, S. 71–77

Brigitte Schad, Frauen um Kirchner. Zeichnung, Graphik, Fotografie (Ausst.-Kat. KirchnerHaus Aschaffenburg), Aschaffenburg 2016.
 


[1] Jill Lloyd, Sexualität und Nacktheit, in: Haldemann 2019, S. 151–163, hier S. 152.

[2] Die Zeichnungs-Sitzungen fanden sowohl im Atelier als auch in der Natur statt. Jenny Graser, „Der transponierte Akt– Ernst Ludwig Kirchners Doppelbildnis Fränzi vor geschnitzten Stuhl“, in: Haldemann 2019, S. 175–185, hier S.176f.

[3] Kirchner an Erich Heckel, undatiert [etwa April 1910], in: Annemarie Dube-Heynig, Ernst Ludwig Kirchner. Postkarten und Briefe an Erich Heckel im Altonaer Museum in Hamburg, Köln 1984, Nr. 31.

[4] Siehe dazu beispielsweise Scotti 2008, S. 71–77, Nobis 2011, S. 29–36, Presler 1998, S. 43–45.

[5] Felix Krämer, „E. L. Kirchner. Im Widerspruch“, in: Ausst.-Kat. Berlin 2010, S. 13–33, hier S. 16.

[6] Irene Berkel, „Genealogische Verwirrungen“, in: Nobis 2011, S. 123–130, hier S. 128.

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