Appassionata

Carol Ramas frühe Aquarelle sind legendär und katapultieren sie ins Zentrum der Avantgarde. In der Serie Appassionata (Die Leidenschaftliche) aus den Jahren 1936–1946 malt sie mit zartem Strich drastische Szenen auf das Papier. Rama arbeitete stets aus der Erinnerung, die für sie einen «sehr subtilen, sehr erotischen und sehr sinnlichen Geschmack» hatte. Die Künstlerin betont bereits hier ihre Vorliebe für Menschen und Situationen, die auf Ablehnung stossen. In den Aquarellen öffnet sich ein ganzer Kosmos an Körpern, die zwischen Schmerz und Lust oszillieren. Die Beherrschbarkeit und zugleich die Befreiung des Körpers sind die Themen dieser Serie. Die nackten Figuren zeigen sich in einem Moment der extremen Verletzbarkeit und strahlen dennoch eine grosse Autonomie aus. Sie sind Rebellinnen – wie die Künstlerin selbst. Im Jahr 1945 sollen die Aquarelle in Turin ausgestellt werden. Die Ausstellung wird wegen des Vorwurfs der Obszönität jedoch nie eröffnet. Erst 1979 präsentiert die Galeristin und Ramas Förderin Liliana Dematteis die Serie in der Galleria Martano in Turin.
Rama verbindet die Aquarelle immer wieder mit ihrer Biografie: 1918 wird sie als jüngste Tochter von Marta und Amabile Rama in Turin geboren. Die Firma ihres Vaters fertigt Autoteile und ermöglicht der Familie zunächst ein bürgerliches Leben. Bereits als Jugendliche erlebt Rama, dass ihre Eltern in psychiatrische Kliniken eingewiesen werden. Viele Werke zeigen Szenen aus der Frauenklinik I due Pini, in der sie ihre Mutter besuchte. Charakteristisch ist die Darstellung fragmentierter Körper. Die in ihre Einzelteile zerlegten Körper, Gebisse und Schuhe erinnern an Körperprothesen – und an Votivbilder. Später geht die Firma des Vaters bankrott und er stirbt 1942 vermutlich durch Suizid. Während der Klinik-Besuche schärft sich Ramas Widerstand gegenüber gesellschaftlich gesetzten Regeln und Zwängen, Geschlechterkategorien und -rollen sowie Vorstellungen weiblicher Sexualität. Schon fast mahnend sagt sie: «Wahnsinn ist nicht, was uns fremd ist. Sich zu sicher auf der richtigen Seite zu wähnen, auch das ist Wahn.»