Einleitung
Sexualität, Wahn, Krankheit und Tod sind die grossen Themen, denen Carol Rama (1918–2015) ihre Kunst widmet. Sie gehört zu den herausragenden Künstlerinnen der Moderne, die erst spät zu Anerkennung gelangten. Ihre Würdigung mit dem Goldenen Löwen an der 50. Biennale von Venedig im Jahr 2003 kommentierte sie folgendermassen: «Das macht mich natürlich stocksauer, denn wenn ich wirklich so gut bin, kapiere ich nicht, warum ich so lange hungern musste, auch wenn ich eine Frau bin.»
Mitte der 1930er-Jahren entschliesst sich die junge Turinerin, Künstlerin zu werden und der Dominanz von Männern im Alltag und in der Kunst entgegenzutreten. Aus dieser Zeit datiert eine Serie von erotischen Aquarellen, die ihre spätere Berühmtheit und den Ruf ihrer künstlerischen Unerschrockenheit begründen. Carol Rama thematisiert Körper, Geschlecht und Sexualität im Kontext gesellschaftlicher Normen. Dies tut sie, indem sie auf eine direkte und lustvolle Art und Weise weibliche Identitäten darstellt und damit heutiger feministischer Kunst den Weg ebnet. Mit diesen Arbeiten lässt sie das bürgerlich-konservative Umfeld, in dem sie aufwächst, das katholische Italien in der Zeit des Faschismus weit hinter sich. Selbstbewusst erklärt Carol Rama: «Meine Rebellion besteht aus der Malerei.»
Unabhängig von Schulen und künstlerischen Gruppierungen schuf Carol Rama in siebzig Jahren ein experimentelles, radikales und persönliches Werk. Rund alle zehn Jahre entwickelte sie neue künstlerische Ansätze, welche in dieser Ausstellung in sechs Kapiteln vorgestellt werden. Den Auftakt zur Ausstellung bilden zentrale Arbeiten in Schwarz und Rot aus unterschiedlichen Werkphasen. Rama arbeitete immer wieder aus der Schwärze des Bildes heraus und sagte: «Ich würde alles in Schwarz malen, es ist eine Art Einäscherung, wie ein fantastischer Todeskampf. Schwarz war immer wie ein Theaterstück, ein Mittel zum Malen, mit dem ich mich auch ein wenig als Regisseurin fühlte, um aussergewöhnliche Szenerien schaffen zu können.» Die Farbe Rot hingegen ist aus Sicht der Künstlerin «eine erotische Aufregung, sie verleiht meinen tiefen Ängsten ein wenig Verzweiflung, aber sie heilt sie auch.»
Parallel zu den frühen Aquarellen fertigt Carol Rama Ölgemälde an, viele davon sind Porträts und Selbstporträts. Ab den 1950er-Jahren malt sie abstrakt-konkrete Werke. Danach erweitert sie die flache Leinwand und produziert erste experimentelle Materialbilder. So entstanden in den 1960er-Jahren die Werkgruppe Bricolage (Basteln) und in den 1970er-Jahren jene der Gomme (Reifen). Schliesslich kehrt die Künstlerin in den 1980er-Jahren wieder zur Figuration zurück. Carol Rama provoziert bis heute nicht nur mit der Darstellung von Schmerz und Lust, sondern auch mit der Unmöglichkeit, ihre Kunst in klare Kategorien einzuordnen.
Eine Ausstellung der Schirn Kunsthalle Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Bern.
Biografie

1918
Olga Carolina Rama wird am 17. April in Turin geboren. Da sie die Zahl 17 ablehnt, die in Italien als Unglückszahl gilt, nennt sie selbst den 16. oder 18. April als ihren Geburtstag.
1920er-Jahre
Ramas Vater betreibt die Firma Carrozzeria Amabile Rama, die Autoteile herstellt.
1929
Im Kontext der Weltwirtschaftskrise geht die Firma des Vaters bankrott.
1933
Ihre Mutter Marta hält sich wegen einer neurologischen Erkrankung in der psychiatrischen Frauenklinik I due Pini auf, auf die Rama mit Titeln und Motiven zahlreicher Aquarelle aus den 1930er- und 1940er-Jahren verweist.
1942
Ihr Vater Amabile Rama stirbt im Alter von 52 Jahren, vermutlich durch Suizid. Im Dezember wird Turin aufgrund des Bombardements durch die Alliierten evakuiert.
Rama flieht mit ihrer Mutter und der älteren Schwester Emma nach Burolo.
1940er-Jahre
Rama zieht in eine Dachgeschosswohnung in der Via Napione 15 in Turin, die sie auch als Atelier nutzt. Sie wohnt hier für den Rest ihres Lebens. Ab Ende der 1940er-Jahre lädt Rama Intellektuelle und Kreative regelmässig in ihre Atelierwohnung ein.
1945-48
Die erste Ausstellung von Ramas Aquarellen wird installiert. Laut der Künstlerin wird die Ausstellung noch vor der Eröffnung auf polizeiliche Anordnung hin wegen Obszönität geschlossen.
1946 lernt Rama den Dichter Edoardo Sanguineti kennen. Sie bleiben bis zu seinem Tod 2010 eng befreundet.
Im gleichen Jahr ist Rama in einer Gruppenausstellung in der Galleria La Bussola in Turin vertreten, die von Felice Casorati geleitet wird. Dieser organisiert 1947 eine Einzelausstellung von Rama in der Libreria del Bosco.
1950 / 1952 / 1956
Teilnahme an der 25. / 26. / 28. Biennale di Venezia.
1953
Rama tritt dem Turiner Ableger der Künstlergruppe Movimento Arte Concreta (MAC) bei. Weitere Turiner Mitglieder sind Annibale Biglione, Paola Levi-Montalcini, Adriano Parisot und Filippo Scroppo.
1971-74
In der Einzelausstellung in der Turiner Galleria La Bussola präsentiert Rama 1971 erstmals Werke mit Schläuchen, die sogenannten Gomme.
Im selben Jahr lernt Rama den Galeristen Luciano Anselmino kennen, der mit seiner Galleria Il Fauno in Turin (ab 1976 in Mailand) internationale Kunststars wie Man Ray und Andy Warhol vertritt – und bald auch Rama.
1979
In einer Einzelausstellung in der Galleria Martano in Turin präsentiert Rama die Aquarelle aus den 1930er- und 1940er-Jahren erstmals der Öffentlichkeit. Organisiert wird die Ausstellung von Liliana Dematteis.
1980
Ramas Werk wird in der bahnbrechenden, von Lea Vergine kuratierten Gruppenausstellung L’altra metà dell’avanguardia 1910–1940 präsentiert, die im Palazzo Reale in Mailand eröffnet und anschliessend nach Rom und Stockholm reist.
1985
Lea Vergine kuratiert Ramas erste Retrospektive, die im Sagrato del Duomo in Mailand gezeigt wird. Durch diese Werkschau wird Rama einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
1993
Der Kurator der 45. Biennale di Venezia, Achille Bonito Oliva, widmet Rama im Italienischen Pavillon einen eigenen Raum, den Corrado Levi gestaltet.
1998
Die Ausstellung carolrama, die von Maria Cristina Mundici kuratiert wird, findet im Stedelijk Museum Amsterdam und im Institute of Contemporary Art, Boston, statt.
2003
Auf der 50. Biennale di Venezia, die von Francesco Bonami kuratiert wird, erhält Rama den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk.
2010
Das Archivio Carol Rama wird in Turin gegründet.
2015
Carol Rama stirbt am 24. September in Turin.
2019
Die Atelierwohnung Carol Ramas wird für Besuche zugänglich gemacht.
2022
Ramas Aquarelle werden im Rahmen von The Milk of Dreams / Il Latte dei sogni gezeigt, der von Cecilia Alemani kuratierten Hauptausstellung der 59. Biennale di Venezia.
2023
Carol Rama. Catalogo ragionato 1936–2005 erscheint (englische Fassung: Carol Rama: Catalogue Raisonné, 2024). Das Werkverzeichnis gibt einen umfassenden Überblick über Carol Ramas künstlerisches Schaffen.
Begleitprogramm
Veranstaltungen
Talk in the exhibition
With Cristina Mundici (Archivio Carol Rama, Turin), Martina Weinhart (Schirn Kunsthalle Frankfurt) and Livia Wermuth (curator). In English.
Friday, 7 March 2025, 15:00
Gespräch in der Ausstellung
Mit Fabienne Amlinger (Interdisziplinäres Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern) und Livia Wermuth (Kuratorin) über die konstruktive Kraft von Wut. Zum aktuellen feministischen Streiktag.
Samstag, 14. Juni 2025, 11:00
Literarische Veranstaltung
Von den Autorinnen Tabea Steiner und Mariann Bühler zum 50. Jubiläum von Verena Stefans Roman Häutungen. Das Kultbuch der Neuen Frauenbewegung in der Schweiz brach erstmals mit dem Tabu der weiblichen Lust.
Samstag, 12. Juli 2025, 14:00
Führungen
Ausstellungsrundgang
Sonntag, 11:00: 9.3. / 30.3. / 13.4. / 4.5. / 18.5. / 15.6. / 6.7. / 13.7.2025
Dienstag, 18:30: 18.3. / 24.6. / 1.7.2025
Visita della mostra
martedì 29 aprile 2025, 18:30
Einführung für Lehrpersonen
Dienstag, 11. März 2025, 18:00
Workshops
Kunst rundum
Samstag, 17. Mai 2025, 14:00–16:00
Interkultureller Workshop für Frauen
Artur Kunst-Tour
Gestalterischer Workshop für Kinder (ab 6 bis 14 Jahre)
Samstag, 17. Mai 2025, 10:15–12:15
Aktuell inspiriert
Dienstag, 27. Mai 2025, 18:00–19:30
Gestalten für Erwachsene ab 16 Jahren
Cool Kids
Saturday, 28 June 2025, 10:15–12:00
Art workshop in English for kids and teens (ages 6−14)
Impressum
Carol Rama. Rebellin der Moderne
Kunstmuseum Bern
7.3.–13.7.2025
Kuratorin: Livia Wermuth
Eine Ausstellung der SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Bern.
Ausstellungskatalog: Carol Rama. Rebellin der Moderne, Martina Weinhart (Hg.), Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, 2024
Ausstellungsgestaltung: Moiré
Digital Guide
Umsetzung: NETNODE AG
Projektleitung: Andriu Deflorin, Cédric Zubler
Mit der Unterstützung von
Kunstmuseum Bern
Hodlerstrasse 8–12, 3011 Bern
+41 31 328 09 44
info@kunstmuseumbern.ch
kunstmuseumbern.ch/CarolRama