Späte Figuration

In den 1980er-Jahren kehrt Carol Rama zur figürlichen Darstellung zurück. In Italien entsteht gleichzeitig die Bewegung der Transavanguardia mit Malern wie Francesco Clemente. Sie widmen sich wieder klassischen Medien und Motiven wie der Tafelmalerei und Figuren der antiken Mythologie. Auch in Ramas Arbeiten sind diese Tendenzen sichtbar. Sie verwendet jedoch immer noch die Technik der Bricolage mit objets trouvés. Als Bildträger dienen ihr Grundrisse und Stadtpläne von Turin oder Konstruktionszeichnungen. Sie zeigen Figuren aus ihren frühen Aquarellen: Nymphen mit ihren blumengekränzten Häuptern, Gorgonen mit Flügeln und Schlangen, die uns frontal anblicken und genüsslich ihre Zungen herausstrecken.
Die Feststellung mancher Kritiker:innen, dass Ramas figurative Arbeiten spontane, naive Kunst sei – frei von historischen und kulturellen Bezügen – greift zu kurz und zeugt von einer Marginalisierung ihrer Arbeit. Denn deren sexuelle Konnotationen können nicht davon ablenken, dass Ikonografie und Stil auf die Antike verweisen. Sie sind den erotischen Szenen von antiken Malereien und Gefässen sakraler und ritueller Art entnommen. Auch das Spätwerk von Rama zeigt, dass sie sich vom Inneren eines öffentlichen Pissoirs in gleichem Masse angezogen und inspiriert fühlt, wie vom Inneren einer Kirche.
1980 wird Ramas Werk in der bahnbrechenden Gruppenausstellung L’altra metà dell’avanguardia 1910–1940 (Die andere Hälfte der Avantgarde 1910–1940) von Lea Vergine im Palazzo Reale in Mailand präsentiert. Diese beleuchtet erstmals den Beitrag von Künstlerinnen zur Avantgarde. Ramas Werk bekommt neue Aufmerksamkeit und Bedeutung.
Bereits einige Jahre zuvor, noch in den 1970er-Jahren, lernt sie den Galeristen Luciano Anselmino kennen, der mit seiner Galleria Il Fauno in Turin bereits Man Ray und Andy Warhol vertritt – und bald auch Rama. In diesen Jahren unternimmt sie meist in Begleitung von Man Ray Reisen und macht unter anderem mit dem Galeristen Alexander Iolas Bekanntschaft. Die von Rama 1984 angefertigten Porträts von Man Ray und Iolas sind nur zwei der zahlreichen Werke, die von ihrem Netzwerk erzählen.