Anti-Porträt

Parallel zu den Zeichnungen und Aquarellen auf Papier entstehen Mitte der 1930er- bis Mitte der 1940er-Jahre auch Malereien in Öl auf Leinwand. Nicht wenige davon sind Porträts oder Selbstporträts. Die Bilder sind reduziert im Ausdruck – nicht nur des Gesichts. Die Figuren erscheinen flächig, beinahe körperlos, als Ansammlung farbiger Flecken. Einige verlieren ihre Form, vermischen sich mit grotesken und surrealen Elementen und werden zu Mischwesen. In Carol Ramas Porträts formen nur wenige Linien Nase und Mund. Die malerische Reduktion teilt sie mit den Frauenporträts ihres Freundes und Förderers Felice Casorati, ein Vertreter des Neoklassizismus und damals einer der bekanntesten Maler Turins. Casorati ist unter den Ersten, welche die Qualität von Ramas Werk erkennen. Er unterstützt bereits 1947 eine Ausstellung ihrer Arbeiten in der Libreria del Bosco in Turin.
Rama befreit das Porträt weitgehend von der Ähnlichkeit mit dem Modell. Sguardo (Blick) oder Ohne Titel, beide aus dem Jahr 1947, gestalten das Porträt mit einer Leerstelle: Das Gesicht ist nur noch ein helles Oval. In einem weiteren Porträt, Ohne Titel von 1944/45, lodert ein orangefarbenes Flackern hinter der aufs Äusserste reduzierten und gerade noch als Figur erkennbaren Anhäufung grüner Farbflecken. Rama reizt damit das Porträtgenre bis an den Rand der Auflösung aus. Sie ist eine Meisterin des künstlerischen Regelbruchs.