Die Schenkung von Marion Lichardus-Itten

Einleitung
Die anerkannte Prähistorikerin und Archäologin Marion Lichardus-Itten, Tochter des Künstlers Johannes Itten und seiner zweiten Frau Anneliese, schenkt dem Kunstmuseum Bern 2024 zehn herausragende Werke ihres Vaters. Acht der Gemälde können nun erstmals der Öffentlichkeit präsentiert werden. Sie decken einen Zeitraum von 1917 bis 1964 ab und geben einen repräsentativen Einblick in das vielseitige Schaffen des Schweizer Malers, Kunsttheoretikers und Kunstpädagogen.
Johannes Itten gilt als eine Schlüsselfigur in der Entwicklung der modernen Kunstpädagogik und der Farb- und Formlehre. Er wurde besonders durch seine Arbeiten zur Farbtheorie und seine Lehrtätigkeit am Bauhaus in Weimar bekannt, an dem er bis 1923 wirkte. Im Jahr 1938 kehrte er in die Schweiz zurück und amtete bis 1954 als Lehrer und Direktor der Kunstgewerbeschule Zürich. Seine Kindheit verbrachte er im Berner Oberland und in Thun. Ittens Tochter Marion wurde als erstes von drei Kindern 1941 in Zürich geboren. Sie studierte Ur- und Frühgeschichte, promovierte und war danach Konservatorin am Schweizerischen Landesmuseum. Nach verschiedenen universitären Lehrauftragen habilitierte Lichardus-Itten 1988 und war bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2006 Professorin an der Sorbonne in Paris. Seit vielen Jahren vertritt sie neben ihrem Bruder Klaus Itten (1944–2023) die Familie Itten in der 1992 gegründeten und am Kunstmuseum Bern assoziierten Johannes Itten-Stiftung. In der Nachfolge ihres Bruders amtete sie von 2007 bis 2024 als Präsidentin.
Die zehn Werke stellen eine bedeutende Erweiterung der Sammlung dar. Durch die grosszügige Geste wie auch das langjährige und fortdauernde Engagement in der Johannes Itten-Stiftung ist das Kunstmuseum Bern Marion Lichardus-Itten in tiefem Dank verbunden.
Zu den Werken
Ein Fest fürs Auge: Johannes Ittens neue Gemälde im Kunstmuseum Bern
Als Künstler ist Johannes Itten erstmals im Dezember 1911 in der Weihnachtsausstellung des Kunstmuseum Bern mit seinem Ölgemälde Vorfrühling an der Rhone öffentlich in Erscheinung getreten. Sein Œuvre ist seit 1993 über die Johannes-Itten-Stiftung mit dem Kunstmuseum verbunden. So fügt es sich gut, dass durch die Schenkung von zehn Gemälden aus dem Besitz seiner Tochter, Frau Prof. Dr. Marion Lichardus-Itten, sein künstlerisches Schaffen erneut prominent im Kunstmuseum Bern hervortritt.
Die Schenkung umfasst Hauptwerke aus zentralen Schaffensphasen. Im Gemälde Ländliches Fest drehen sich farbig rhythmisierte abstrakte Kreissegmente wie bei einem beschwingten Tanz in den Mai: Mit grosser Leichtigkeit verwandelt Itten in diesem 1917 in Wien gemalten Bild die Formprinzipien des Kubismus, Simultanismus und Orphismus in eine eigene Bildsprache, in deren Zentrum in paradoxer Verschmelzung körperliche Bewegungen und das ruhende Auge des Betrachters zugleich zu finden sind: Leben als Kunst, Kunst als Leben, die Balance zwischen Abstraktion und Lebenswirklichkeit bezeichnen Beziehungsebenen, die für Ittens Kunst charakteristisch sind.
Schon 1915 hatte Itten in Stuttgart den Übergang in eine vollständige geometrische Abstraktion vollzogen, diese aber nie als einzig mögliche «Weltkunstsprache» verstanden: So rekonstruierte er 1963 aus der Erinnerung sein verloren geglaubtes Schlüsselwerk Horizontal-Vertikal von 1915, dessen Wiederholung im Schweizer Pavillon der Biennale in Venedig 1966 gezeigt wurde, bevor er 1967 die frühe Version des Werks wiederentdeckte. Wie sehr Itten mit seinen Farbfeldkompositionen stets auch musikalische Harmonien verband, zeigt sein Ölbild mit dem Titel Concerto grosso von 1959.
Auch der Bezug zu Landschaft und Natur ist im Werk des ursprünglich aus dem Berner Oberland stammenden Bauernjungen niemals verloren gegangen, wie das 1964 entstandene Bild Felder im Frühling mit seinen jahreszeitlich bestimmten Farbklängen zeigt. Im Gemälde Simultane Diagonalen von 1964 sind bewusst alle lebensweltlichen Bezüge zugunsten einer rein abstrakten Bildmatrix zerschnitten.
In seinen grössten biografischen Bewährungsproben hat sich Itten auch auf die Macht des Figurativen zurückbesonnen: In Gemälden wie Der Skifahrer von 1928 experimentiert er mit Möglichkeiten eines fotografischen Blicks, der vor dem Hintergrund einer zerissenen Lebenswelt im Gemälde Der Mann am Meer 1930 einen niedergeschlagenen Ausdruck annimmt.
In dem ab 1940 entstandenen Gemälde der Tellenwacht erweist Itten der Heroenfigur des Schweizer Nationalmythos seine Reverenz. Unter den patriotischen Vorzeichen der «Geistigen Landesverteidigung» legt er nach seiner Rückkehr aus dem nationalsozialistischen Deutschland einen persönlichen Rütlischwur ab.
Ein Fest fürs Auge, das war und blieb die Malerei für den Künstler Johannes Itten ein Leben lang, von seinen ersten Werken bis zu seinen letzten Bildern.
Christoph Wagner, Präsident der Johannes-Itten-Stiftung