Einleitung Obergeschoss
Schweizer Kunst von Caspar Wolf bis Martha Stettler
In der Sammlung des Kunstmuseum Bern bildet die Schweizer Kunst einen wichtigen Schwerpunkt. Die aktuelle Präsentation gewährt Einblicke in die Breite des künstlerischen Schaffens in der Schweiz vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert.
Im ersten, der Gattung Landschaftsmalerei gewidmeten Raum, liegt der Fokus auf Darstellungen der Schweizer Bergwelt. Den Anfang bilden Szenerien von Caspar Wolf, der sich als einer der ersten Künstler in die unwirtlichen Alpen vorwagte und heute als einer der Pioniere der Landschaftsmalerei gilt. In den Werken von Franz Niklaus König oder Louise Elisabeth Vigée Le Brun rücken die Berge in den Hintergrund, während Ferdinand Hodler als Vertreter der Moderne die berühmtesten Gipfel des Berner Oberlandes in ihrer ganzen Monumentalität ins Bild rückte.
Im Hauptsaal werden die Motivkreise Kindheit, Jugend und Lektüre aus der Ausstellung Albert Anker. Lesende Mädchen aufgegriffen: Gemälde von Anker, von Künstler:innen seiner Zeit und nachfolgenden Generationen entfalten ein breites Spektrum an unterschiedlichen Auseinandersetzungen und stilistischen Ausprägungen. Feinmalerische Genreszenen oder Bildnisse von Karl Stauffer-Bern treffen auf die atmosphärische Freiluftmalerei von Martha Stettler, die kühle Nüchternheit Félix Vallottons auf die postimpressionistischen Farbexplosionen von Cuno Amiet.
Ein Seitenkabinett konzentriert sich auf die Gattung der Porträtmalerei mit Hauptgewicht auf Selbstdarstellungen von Schweizer Künstler:innen derselben Epoche. Wir begegnen den forschenden, nachdenklichen oder herausfordernden Blicken von Maler:innen wie Clara von Rappard, Max Buri oder Ottilie Roederstein – die im kritischen Dialog mit ihrem Spiegelbild beziehungsweise sich selbst begriffen sind. Das gegenüberliegende Kabinett beherbergt einen Exkurs in die Schweizer Gegenwartskunst: eine Hommage an den Berner Künstler Markus Raetz (1941–2020), der sich in seinem auf die visuelle Wahrnehmung fokussierten Schaffen mit der permanenten Metamorphose von Motiven auseinandersetzte.
Einleitung Erdgeschoss
Im Erdgeschoss bilden Werke von El Anatsui und Kader Attia als Vertreter der globalen Gegenwartskunst den Auftakt. Ein benachbarter Raum beherbergt mit Paul Cézanne, Claude Monet und Vincent van Gogh die ganz grossen Namen der internationalen Kunstgeschichte. Landschaften von Schweizer Exponenten der Moderne wie Félix Vallotton und Giovanni Giacometti runden die Ausstellung ab. Ein Seitenkabinett ist dem Legat von Eberhard W. Kornfeld (1923–2023) gewidmet. Dort werden die fünf hochkarätigen Gemälde präsentiert, die der berühmte Kunsthändler, Sammler und prägende Vermittler dem Kunstmuseum Bern in einer ausserordentlich grosszügigen Geste hinterlassen hat.
Legat Eberhard W. Kornfeld (Kabinett Erdgeschoss)
Der Schweizer Kunsthändler, Sammler und Mäzen Eberhard W. Kornfeld ist im April 2023, wenige Monate vor seinem 100. Geburtstag, verstorben. Das Kunstmuseum Bern, mit dem ihn eine besondere Beziehung verband, bedachte er mit einem Legat von fünf herausragenden Gemälden. Diese können nun erstmals der Öffentlichkeit präsentiert werden.
Der gebürtige Basler Eberhard W. Kornfeld begann seine Karriere 1945 in der Berner Kunsthandlung August Klipstein. Nach dem überraschenden Tod Klipsteins 1951 übernahm er sukzessive die Leitung und führte die Firma schliesslich ab 1972 unter dem Namen Galerie Kornfeld zu einem der international bedeutendsten Auktionshäuser.
Kornfeld war für sein scharfsinniges Urteilsvermögen, seine Expertise und Eloquenz bekannt, ebenso wie für seinen hohen wissenschaftlichen Anspruch bei der Herausgabe von Auktionskatalogen oder Werkverzeichnissen. Zu seinen Freunden und wichtigsten Künstlern der Galerie zählten Marc Chagall, Pablo Picasso, Alberto Giacometti und Sam Francis. Diese Beziehungen sowie die Verehrung von Ernst Ludwig Kirchners Werk fanden ihren Niederschlag in seiner Sammeltätigkeit.
Während seiner langen Wirkungszeit in Bern unterstützte Kornfeld das Kunstmuseum Bern und das Zentrum Paul Klee stets grosszügig mit Leihgaben, vermittelnden Kontakten und durch Einblicke in die Archive seiner Galerie. Als grosszügiger Gönner beschenkte er das Haus unter anderem mit grafischen Arbeiten von Maurice de Vlaminck und Alfred Kubin sowie – gemeinsam mit Marlies Kornfeld – mit einem monumentalen Mobile von Alexander Calder.
Von den fünf Gemälden, die Kornfeld dem Museum vererbte, repräsentiert jedes eine seiner besonderen Künstlerbeziehungen oder eines seiner Forschungsfelder. Mit Bedacht ausgewählt, schliesst gleichzeitig jedes der Werke eine Lücke im Sammlungsbestand des Hauses. Damit bleibt das Kunstmuseum Bern auch künftig mit dem ausserordentlichen Kunstkenner, grosszügigen Förderer und geschätzten Freund verbunden – in tiefem Dank.
Einleitung Untergeschoss
Im Untergeschoss des historischen Stettlerbaus sind mit Kubismus, Expressionismus, Surrealismus und abstrakter Kunst die zentralen avantgardistischen Strömungen der Moderne vertreten. Höhepunkte sind etwa Pablo Picassos Geige, an der Wand hängend, Meret Oppenheims Unter der Regen-Wolke oder Piet Mondrians Tableau no II. Ergänzt wird die Präsentation durch eine Auswahl von Werken des Berner Künstlers Adolf Wölfli aus dem Bestand der Adolf Wölfli-Stiftung.
Das Untergeschoss des Atelier 5-Baus vereint Gemälde von berühmten Vertreter:innen des Abstrakten Expressionismus – beispielsweise Jackson Pollocks Brown and Silver II oder Lee Krasners Forest no 2 – mit Positionen aus der abstrakten und Konkreten Kunst, etwa von Sophie Taeuber-Arp oder Max Bill.
Adolf Wölfli-Raum (Untergeschoss)
Wölfli verankern. Albert Anker erscheint im Universum von Adolf Wölfli
Die aktuelle Präsentation von Zeichnungen aus dem Schaffen von Adolf Wölfli versteht sich als ein Echo auf die Ausstellung Albert Anker. Lesende Mädchen, die aktuell im Kunstmuseum Bern gezeigt wird. Sie unternimmt den Versuch, in den unterschiedlichen Bildwelten der beiden Künstler allenfalls auch Parallelen zu entdecken. Angeregt wurde dieses Vorhaben durch das Projekt Albert Anker – Adolf Wölfli. Parallele Welten, das Therese Bhattacharya-Stettler und Daniel Baumann im Jahr 1999 am Kunstmuseum Bern realisiert hatten.
Anker und Wölfli sind sich nie begegnet, obwohl dies durch die räumliche Nähe und aufgrund der Überschneidung ihrer Lebensdaten möglich gewesen wäre. Adolf Wölfli (1864–1930) schuf sein Werk ab 1899 in der Waldau bei Bern; Albert Anker (1831–1910) war bis zu seinem Tod in Ins tätig und dem Ort im Berner Seeland zeitlebens verbunden. Obwohl die Absichten und Persönlichkeiten der zwei Künstler nicht unterschiedlicher
sein könnten, lassen sich in ihren Bildwelten auch Parallelen entdecken.
Bei beiden ist ein besonderes Interesse für Bern als Stadt und Lebenswelt auszumachen. Albert Anker gilt als der Maler der bäuerlichen und bürgerlichen Welten in den bernischen Verhältnissen schlechthin. Für Wölfli ist Bern wiederkehrender Bezugspunkt und selbst seine erfundenen Schauplätze in entlegenen Weltgegenden scheinen mit seinen Erfahrungen vor Ort zu korrespondieren. Immer wieder finden sich in seinen Zeichnungen Referenzen an Glockentürme, Uhren und selbst an Gewässer, welche diese erfundenen Orte umfliessen. Liesse sich nicht beispielsweise die Darstellung des Haven der Heiligen=Licht=Insel im Stillen Ozean, Englisch=Grossbrittanische Kolonie als eine Ansicht von Bern deuten, eingedenk der drei Kraftzentren Münster, Zytglogge und Heiliggeistkirche?
Darüber hinaus spielt im Werk beider Künstler die Vorstellung der Idylle eine tragende Rolle. Während bei Anker die Idylle Teil der Rezeption seiner Kunst darstellt, erstaunt diese Zuordnung für Wölflis Schaffen. Es war jedoch Harald Szeemann, der auf die wichtige Funktion dieses Aspekts in Wölflis Weltkonstruktion hingewiesen hat. Er erkannte in der Gegenüberstellung von Idylle und Katastrophe den Spannungsbogen, auf dem Wölflis fragiles Universum aufgebaut ist. Anschaulich wird diese Zuwendung in seinen Collagen, für die er Illustrationen aus Zeitschriften vor 1900 verwandte. Er bezog sich damit auf eine Ikonographie, welche den Bildern von Anker aus jenen Jahren durchaus verwandt ist. So kommen sich in diesen Bildwelten die zwei Künstler für einen Moment überraschend nahe.
Und beide werden durch spezifische Künstlerlegenden zu prototypischen Figuren der Schweizer Kunstgeschichte stilisiert: Anker als Inbegriff des nostalgischen Malers einer versöhnlichen, heilen Welt und Wölfli als Idealfigur des ganz aus dem Inneren schöpfenden Künstlers. Die Legendenbildung verweist auf die Bedeutung der beiden Künstler, obwohl sich diese Zuordnungen durchaus hinterfragen lassen. So stellt die aktuelle Anker-Ausstellung gesellschaftskritische und aufklärerische Aspekte von Ankers Werk in den Vordergrund. Wölfli hingegen sehen wir heute als einen Schöpfer, der ein klares Werkverständnis formulierte und gezielt an seinem Selbstbewusstsein als Künstler gearbeitet hat, nicht zuletzt, um seine Situation als Patient der Waldau zu verbessern.
Biografie
1864 im Emmental geboren, wächst Adolf Wölfli in sehr ärmlichen Verhältnissen an verschiedenen Orten auf. Um 1870 verlässt der Vater die Familie. Wölfli und seine Mutter verarmen und werden in die Heimatgemeinde Schangnau zwangsumgesiedelt. 1874 stirbt Wölflis Mutter und ihr Sohn wächst unter entwürdigenden Lebensbedingungen als Verdingbub bei verschiedenen Bauernfamilien im Emmental auf. Von 1880 bis 1890 lebt Wölfli als Lohn- und Wanderarbeiter an verschiedenen Orten. 1890 wird er wegen versuchter Notzucht zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Aus der Haft entlassen, vereinsamt er immer mehr. Wölfli wird 1895 zur Untersuchung seiner Zurechnungsfähigkeit in die psychiatrische Heilanstalt Waldau bei Bern eingeliefert. Die Diagnose lautet «Dementia paranoides» (Schizophrenie).
Auf Geheiss der Ärzte verfasst Wölfli bei seinem Eintritt in die Waldau 1895 seine erste Lebensgeschichte. 1899 beginnt er mit Zeichnen. Die ersten erhaltenen Zeichnungen sind von 1904 und 1905. Von 1908 bis 1912 schreibt er seine fiktive Autobiografie Von der Wiege bis zum Graab (3000 Seiten). Zwischen 1912 und 1916 entstehen die Geographischen und allgebraischen Hefte (3000 Seiten). Wölfli schildert darin die Entstehung der zukünftigen Skt. Adolf=Riesen=Schöpfung. Ab 1916 entstehen Serien von Zeichnungen, die Wölfli an Ärzte, Angestellte, Besuchende und erste Sammler:innen verschenkt oder verkauft. Von 1917 bis 1922 erfolgt die Niederschrift der Hefte mit Liedern und Tänzen (rund 7000 Seiten), mit denen Wölfli seine zukünftige Schöpfung besingt und zelebriert. 1921 veröffentlicht Walter Morgenthaler Ein Geisteskranker als Künstler. Die Studie wird u. a. von Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé begeistert gelesen. Von 1924 bis 1928 arbeitet Wölfli an den Allbumm-Hefte mit Tänzen und Märschen (5000 Seiten), in denen er seine kommende Welt weiter besingt. Von 1928 bis 1930 arbeitet er am (unvollendeten) Trauer=Marsch. Am 30. November 1930 stirbt Wölfli an Magenkrebs.
Hilar Stadler
Kurator Adolf Wölfli-Stiftung
Kunstwerk finden
Begleitprogramm
Literarische Führungen mit Michaela Wendt
(Sammlung Obergeschoss inkl. Albert Anker)
Dienstag, 18:00: 28.05.24 / 25.06.24
Sonntag, 13:00: 07.04.24 / 05.05.24
Öffentliche Führungen
(Sammlung Obergeschoss inkl. Albert Anker)
Dienstag, 19:00: 14.05.24
Sonntag, 11:00: 24.03.24 / 31.03.24 / 14.04.24 / 05.05.24 / 09.06.24 / 23.06.24 / 07.07.24 / 21.07.24
mit der Kuratorin
(Sammlung Obergeschoss inkl. Albert Anker)
Rundgang mit der Kuratorin Kathleen Bühler
Dienstag, 19:00: 30.04.24
Visites guidées en français
(Collection étage supérieure incluant Albert Anker)
Mardi 19h00 : 07.05.24
Dimanche 11h30 : 30.06.24
Impressum
Die Sammlung
Kunstmuseum Bern
Kuratorinnen: Nadine Franci, Anne-Christine Strobel, Nina Zimmer
Digital Guide:
Umsetzung: NETNODE AG
Projektleitung: Martin Stadelmann, Cédric Zubler
Mit der Unterstützung von:
KUNSTMUSEUM BERN
Hodlerstrasse 8–12, CH-3011 Bern
T +41 (0)31 328 09 44
info@kunstmuseumbern.ch
kunstmuseumbern.ch/Sammlung