Adolf Wölfli (1864–1930)

Einleitung
Adolf Wölfli gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Art brut. Mit 35 Jahren begann er in der psychiatrischen Klinik Waldau bei Bern mit Zeichnen, Schreiben und Komponieren. Seit 1975 wird sein umfangreicher Nachlass durch die Adolf Wölfli-Stiftung verwaltet, wissenschaftlich bearbeitet und in Publikationen und Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Stiftung ist seit ihrer Gründung im Kunstmuseum Bern beheimatet. In diesem Raum stellt sie in wechselnden Präsentationen unterschiedliche Aspekte von Wölflis Schaffen vor.
Aktuelle Ausstellung: Adolf Wölflis Geografie
Im Jahr 1908 setzt Adolf Wölfli als 45-Jähriger zu seinem literarischen Werk an und startet damit die Aufzeichnung seiner erfundenen und abenteuerlichen Lebensgeschichte. Die Arbeit an seinen Schriften wird ihn bis zu seinem Tod beschäftigen. Seine Schriften, die er in 45 Heften gebunden hatte, betrachtete Wölfli denn auch als sein Hauptwerk. In der Abgeschiedenheit seiner Zelle in der Psychiatrischen Klinik Waldau schuf er in Form eines fiktiven autobiografischen Reiseberichts auf über 25‘000 Seiten ein in sich stimmiges Gedankengebäude, das in Beschreibungen, Tabellen, Gedichten, Musikkompositionen und Zeichnungen ein eigenständiges Universum eröffnete.
Wie andere Kopfreisende (Jules Verne oder Karl May) hat sich auch der Berner Künstler von Atlanten, Reisebüchern und illustrierten Zeitschriften leiten lassen. Bei Wölfli steht jedoch nicht die Herstellung einer glaubwürdigen Erfindung im Vordergrund, sondern vielmehr die Erschaffung einer eigenen Welt. Er nennt sie später die Skt.Adolf=Riesen=Schöpfung. Dabei dient ihm die Aussenwelt als Steinbruch zur Konstruktion seiner eigenen Realität, die in sich bis auf den Millimeter genau stimmig ist. Wie der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel in einem Text über Adolf Wölfli anmerkte, sind dessen Welten nicht so sehr durch den Begriff der Fantasie geprägt, sondern vielmehr durch die Kategorie des Wissens bestimmt. Aus den Elementen Berge, Meere, Flüsse, Städte, Pflanzen und Tieren baut er seine Zeichnungen als grossangelegte Gedankenbilder auf.
Die Schriften von Adolf Wölfli sind mit Illustrationen bestückt, in denen er Situationen aus den beschriebenen Weltgegenden zur Darstellung bringt. Eine kleine Auswahl aus diesen topografischen Ansichten seiner Weltengeografie ist in der aktuellen Präsentation vereinigt. Die Zeichnungen stammen hauptsächlich aus der Erzählung Von der Wiege bis zum Graab, die in der Zeit von 1908 bis 1912 als erster Teil des umfangreichen erzählerischen Werks entstanden ist.
Diese Zeichnungen ergänzen Wölflis Reiseberichte mit Landkartendarstellungen der imaginierten Weltgegenden, welche der Held der Geschichte – ein Alter Ego des Künstlers – in Begleitung seiner Getreuen besucht und erforscht. Indem er seine Vorstellungen kartografiert, entwirft er eine eigentliche «Geografie» seiner Gedankenwelten. Diese Zeichnungen vermessen also Wölflis Imagination und sie überführen die vorgestellten Welten in eine konkrete und oft pedantisch genau beschriebene Darstellung seiner individuellen Schöpfung.
Hilar Stadler, Kurator der Adolf Wölfli-Stiftung
Biografie
1864 im Emmental geboren, wächst Adolf Wölfli in sehr ärmlichen Verhältnissen an verschiedenen Orten auf. Um 1870 verlässt der Vater die Familie. Wölfli und seine Mutter verarmen und werden in die Heimatgemeinde Schangnau zwangsumgesiedelt. 1874 stirbt Wölflis Mutter und ihr Sohn wächst unter entwürdigenden Lebensbedingungen als Verdingbub bei verschiedenen Bauernfamilien im Emmental auf. Von 1880 bis 1890 lebt Wölfli als Lohn- und Wanderarbeiter an verschiedenen Orten. 1890 wird er wegen versuchter Notzucht zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Aus der Haft entlassen, vereinsamt er immer mehr. Wölfli wird 1895 zur Untersuchung seiner Zurechnungsfähigkeit in die psychiatrische Heilanstalt Waldau bei Bern eingeliefert. Die Diagnose lautet «Dementia paranoides» (Schizophrenie).
Auf Geheiss der Ärzte verfasst Wölfli bei seinem Eintritt in die Waldau 1895 seine erste Lebensgeschichte. 1899 beginnt er mit Zeichnen. Die ersten erhaltenen Zeichnungen sind von 1904 und 1905. Von 1908 bis 1912 schreibt er seine fiktive Autobiografie Von der Wiege bis zum Graab (3000 Seiten). Zwischen 1912 und 1916 entstehen die Geographischen und Allgebräischen Hefte (3000 Seiten). Wölfli schildert darin die Entstehung der zukünftigen Skt. Adolf=Riesen=Schöpfung. Ab 1916 entstehen Serien von Zeichnungen, die Wölfli an Ärzte, Angestellte, Besuchende und erste Sammler:innen verschenkt oder verkauft. Von 1917 bis 1922 erfolgt die Niederschrift der Hefte mit Liedern und Tänzen (rund 7000 Seiten), mit denen Wölfli seine zukünftige Schöpfung besingt und zelebriert. 1921 veröffentlicht Walter Morgenthaler Ein Geisteskranker als Künstler. Die Studie wird u. a. von Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé begeistert gelesen. Von 1924 bis 1928 arbeitet Wölfli an den Allbumm-Heften mit Tänzen und Märschen (5000 Seiten), in denen er seine kommende Welt weiter besingt. Von 1928 bis 1930 arbeitet er am (unvollendeten) Trauer=Marsch. Am 30. November 1930 stirbt Wölfli an Magenkrebs.