Adolf Wölfli (1864–1930)

Einleitung
Adolf Wölfli gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Art brut. Mit 35 Jahren begann er in der psychiatrischen Klinik Waldau bei Bern mit Zeichnen, Schreiben und Komponieren. Seit 1975 wird sein umfangreicher Nachlass durch die Adolf Wölfli-Stiftung verwaltet, wissenschaftlich bearbeitet und in Publikationen und Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Stiftung ist seit ihrer Gründung im Kunstmuseum Bern beheimatet. In diesem Raum stellt sie in wechselnden Präsentationen unterschiedliche Aspekte von Wölflis Schaffen vor.
Aktuelle Ausstellung: Adolf Wölfli – Die Welt als Klang
LP Adolf Wölfli. Gelesen und vertont, Track 01: Musikstück transkribiert und Antree
Adolf Wölfli hat eine seiner frühesten Zeichnungen mit «Adolf Wölfli Komponist» signiert und sich später zuweilen als «Musik=Diräktohr» bezeichnet. Unter den verschiedenen Kunstgattungen, die Adolf Wölfli als vielseitig begabter Künstler pflegte, zählte die Musik neben der Zeichnung und dem Schreiben zu seinen bevorzugten künstlerischen Ausdrucksweisen. Seine Schriften sind mit unzähligen Partituren von Polkas, Märschen und Mazurkas reich bestückt. Erste Notationen finden sich um 1912 am Schluss von Heft Nr. 11, die in den Heften Nr. 12 und 13 als Partituren immer prägender werden. Elka Spoerri, die erste Leiterin der Adolf Wölfli-Stiftung, bewertete diese «Notenbilder» als eine eigenständige Bildgattung innerhalb von Wölflis Schaffen.
Die Kompositionen sind an die Erschaffung der Skt.Adolf=Riesen=Schöpfung gebunden, wie sie in den Geographischen und Allgebräischen Heften (1912–1916) als eine glorreiche Zukunftsvision von Wölfli imaginiert wird. Die Musikstücke sind im Grunde hymnische Verehrungsgesten gegenüber seiner eigenen «Schöpfung» und preisen durch Musik diese neue Welt. Dabei verwandelt sich der von Wölfli geschaffene Kosmos gleichsam in einen Gesamtklang, in ein klingendes Universum.
Gemäss den Beobachtungen des Psychiaters Walter Morgenthaler hat Adolf Wölfli seine Musikstücke auf seiner einfachen Papiertrompete «gespielt», um diese Melodien danach als Komposition in seinen Notenbildern festzuhalten. Das deutet darauf hin, dass für den Künstler ein direkter Bezug von gesungener Melodie zu deren Notation bestand. Bis in die 1970er-Jahre ging man davon aus, dass diese Kompositionen vor allem einen dekorativen Wert hätten. Erst später stellten die Musiker Peter Streiff und Kjell Keller jedoch fest, dass die Dreiklang- und Kadenzbildungen, wie sie sich in seinen Kompositionen immer wieder finden lassen, grundsätzlich einen musikalischen Sinn in sich tragen. In deren Folge realisierten die beiden Interpretationen von Wölflis Partituren, die 1978 auf der LP Adolf Wölfli. Gelesen und vertont aufgezeichnet wurden (alle Tracks der LP unter adolfwoelfli.ch). Spätere Untersuchungen von Eric Förster und Baudouin de Jaer bestätigten diesen Befund und werten dadurch den Status des Musikers und Komponisten Adolf Wölfli auf.
Die kleine, aber repräsentative Auswahl von «Notenbildern» ermöglicht einen Einblick in diesen besonderen Werkaspekt bei Wölfli. Der Anlass dieser thematischen Hängung ist eine Schenkung des Vereins Wölfli & Musik an die Adolf Wölfli-Stiftung, die rund zwanzig Kompositionen von zeitgenössischen Komponist:innen umfasst. Seit der Gründung 2011 hat der Verein Wölfli & Musik Kompositionsaufträge erteilt, die über die Musik einen direkten und aktuellen Bezug zu Wölflis Werk herstellen. Ein (wohl letztes) Auftragswerk wird später den Bestand noch ergänzen: Für eine Komposition für grosses Orchester konnte der Verein Wölfli & Musik den in Wien lebenden Komponisten Beat Furrer (*1954 in Schaffhausen) gewinnen. Das Werk wird voraussichtlich in der Saison 2026/27 vom Berner Symphonieorchester uraufgeführt werden.
Hilar Stadler, Kurator der Adolf Wölfli-Stiftung
Biografie

1864 im Emmental geboren, wächst Adolf Wölfli in sehr ärmlichen Verhältnissen an verschiedenen Orten auf. Um 1870 verlässt der Vater die Familie. Wölfli und seine Mutter verarmen und werden in die Heimatgemeinde Schangnau zwangsumgesiedelt. 1874 stirbt Wölflis Mutter und ihr Sohn wächst unter entwürdigenden Lebensbedingungen als Verdingbub bei verschiedenen Bauernfamilien im Emmental auf. Von 1880 bis 1890 lebt Wölfli als Lohn- und Wanderarbeiter an verschiedenen Orten. 1890 wird er wegen versuchter Notzucht zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Aus der Haft entlassen, vereinsamt er immer mehr. Wölfli wird 1895 zur Untersuchung seiner Zurechnungsfähigkeit in die psychiatrische Heilanstalt Waldau bei Bern eingeliefert. Die Diagnose lautet «Dementia paranoides» (Schizophrenie).
Auf Geheiss der Ärzte verfasst Wölfli bei seinem Eintritt in die Waldau 1895 seine erste Lebensgeschichte. 1899 beginnt er mit Zeichnen. Die ersten erhaltenen Zeichnungen sind von 1904 und 1905. Von 1908 bis 1912 schreibt er seine fiktive Autobiografie Von der Wiege bis zum Graab (3000 Seiten). Zwischen 1912 und 1916 entstehen die Geographischen und Allgebräischen Hefte (3000 Seiten). Wölfli schildert darin die Entstehung der zukünftigen Skt.Adolf=Riesen=Schöpfung. Ab 1916 entstehen Serien von Zeichnungen, die Wölfli an Ärzte, Angestellte, Besuchende und erste Sammler:innen verschenkt oder verkauft. Von 1917 bis 1922 erfolgt die Niederschrift der Hefte mit Liedern und Tänzen (rund 7000 Seiten), mit denen Wölfli seine zukünftige Schöpfung besingt und zelebriert. 1921 veröffentlicht Walter Morgenthaler Ein Geisteskranker als Künstler. Die Studie wird u. a. von Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé begeistert gelesen. Von 1924 bis 1928 arbeitet Wölfli an den Allbumm-Heften mit Tänzen und Märschen (5000 Seiten), in denen er seine kommende Welt weiter besingt. Von 1928 bis 1930 arbeitet er am (unvollendeten) Trauer=Marsch. Am 30. November 1930 stirbt Wölfli an Magenkrebs.