Einführung
Die US-amerikanische Malerin Amy Sillman (*1955) ist eine wichtige Stimme der zeitgenössischen Malerei. Ihre Arbeiten umfassen Zeichnungen, Drucke, Texte sowie Objekte und Animationen. Die völlige Hingabe an Verfahren der Transformation, der Umkehrung, der Neugestaltung und der Überprüfung ist charakteristisch für Sillmans malerische Erkundungen. Ihre seriellen Zeichnungen und vielschichtigen Malereien bewegen sich gekonnt zwischen Abstraktion und Figuration – mal sind sie vielfarbig, mal monochrom, mal zeigen sie komplexe Formen, mal Figuren oder Körperteile. Und immer sind sie voller Lust an der Malerei.
Bereits seit Anfang der 1990er Jahre bearbeitet Amy Sillman die Glaubenssätze des Mediums Malerei. Ihre künstlerische Entwicklung ist bis heute geprägt vom New York der 1970er Jahre und den anhaltenden politischen Spannungen zwischen den visuellen und den sprachlichen Ausdrucksformen. Während Malerei als «kommerzielles» Medium kritisiert wurde, orientierte sich Sillman an Vorgänger:innen der Malerei, die nicht-kommerzielle, abstrakte Verfahren verfolgten. Ihre kraftvolle und ausdrucksstarke künstlerische Sprache bezieht sich immer wieder auf die Kunstgeschichte sowie auf Maler:innen und Bildhauer:innen wie beispielsweise Jacob Lawrence, Philip Guston, Lee Krasner, Joan Mitchell, Eva Hesse, Nancy Spero, Elizabeth Murray, Nicolas Moufarrege, Ida Applebroog oder Jack Whitten. Gleichzeitig stand und steht sie dem experimentellen Schreiben und dem experimentellen Film nahe.
Sillman hat den Abstrakten Expressionismus neu belebt, indem sie nahtlos zwischen verschiedenen Medien wechselt und Elemente wie Collage, Zeichnung und Druckgrafik in ihre Praxis integriert. Ihre Arbeit greift auf kunsthistorische Referenzen, insbesondere die amerikanische gestische Malerei der Nachkriegszeit, zurück, die sie sowohl als Einfluss als auch als Kontrast verwendet; sie setzt sich mit der feministischen Kritik an Begriffen wie Meisterschaft, Genie und Macht auseinander, um Qualitäten wie Humor, Unbeholfenheit, Selbstironie, Affekt und Zweifel in ihre Praxis einzuführen. In den letzten drei Jahrzehnten hat Amy Sillman die Sprache und Praxis der Malerei hinterfragt, deren Geschichte neu bewertet und sie auf neue mechanische und digitale Prozesse ausgeweitet.
Oh, Clock!: Zur Ausstellung
Mit ausgewählten Werkgruppen der letzten fünfzehn Jahre wird das kraftvolle und andeutungsreiche Schaffen Amy Sillmans vorgestellt. Ausgehend von ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Mediums, ihrer komplexen malerischen Arbeitsweise auf und jenseits der Leinwand, ihrer recherchebasierten Schreibpraxis sowie ihrem Umgang mit musealen Sammlungen und ihrer internationalen Lehrtätigkeit, liefert die Ausstellung Oh, Clock! vielseitige Einblicke in Sillmans Herangehensweise an die Malerei, und – wie der Titel verrät ihr Interesse an der Malerei als zeitbasiertes Medium.
Die Präsentation umfasst rund dreissig Gemälde sowie dreihundert Arbeiten auf Papier, mehrere digitale Animationen sowie ortsspezifische Installationen. Sie ist als grosse Installation von unterschiedlichen Werkformen, die sich mit dem Zeitaspekt auseinandersetzen, konzipiert. Zusammen mit der Künstlerin kuratiert, zeichnet sich die Ausstellung durch gezielte Begegnungen zwischen dicht komponierten Gemälden und umfangreichen Zeichnungsserien, objekthaften Druckserien, Videoarbeiten mit poetischen Tonspuren, Wandmalerei, Animationen sowie installativen Eingriffen aus.
Zeit
Der besondere Fokus auf das Moment der Zeit in der Malerei ergibt sich zum einen aus der aufwändigen Arbeitsweise der Künstlerin. Einige der gezeigten Gemälde sind über den Zeitraum vieler Monate hinweg entstanden: Sillman trägt stetig Farbe auf, zeichnet, malt, kratzt ab, wischt weg, übermalt, bis ein Werk den Punkt erreicht, an dem es etwas ausdrückt und sich Bedeutung herauskristallisiert. Andere zeichnen sich durch Kurzweiligkeit, rhythmische Gesten und schnell aufgetragene Farbzonen aus, während animierte Zeichnungen die einzelnen Schritte des künstlerischen Denk- und Entscheidungsprozesses nachvollziehbar machen. «In den Bildern steckt Zeit – die Zeit ihrer Entstehung, die den Betrachter:innen weitgehend verborgen bleibt. Ich mag es, die unteren Schichten freizulegen, um darüber nachzudenken, wie die Zeit darin verpackt ist.», so Amy Sillman.
Ihre Kunst strebt zu Film und Poesie, beides Kunstformen, in denen sich die Zeit komprimieren oder ausweiten lässt. Zum andern ist für Sillman Zeit auch im Raum greifbar, den sie dem Prozess der malerischen Entwicklung und Findung zeichnerischer Gesten zugesteht. Hier wird ihre kritische Revision des Abstrakten Expressionismus verständlich als zeitgenössisches Ringen um das kommunikative Potenzial von abstrakter Malerei, die sich von den Herrschaftsansprüchen vergangener Generationen befreit und neue emotionale Terrains erschliesst. Ihre Zuwendung zum Ungelenken und Plumpen eröffnet der Malerei eine neue Glaubwürdigkeit und Aktualität in Zeiten, in denen das Subjektive in der Kunst hybrid, fluid und prozessual artikuliert werden will.
Bilder und Worte
1975 zog Amy Sillman nach New York, um inspiriert von längeren Reisen durch Japan und die USA Japanologie zu studieren. Seit jeher fasziniert von Sprache belegte sie Kurse in Kalligrafie. In diesem Kontext entdeckte sie erstmals ihre Leidenschaft für das Zusammenspiel von Wort und Bild, Abstraktion und Figuration. Angetrieben von dieser Begeisterung wechselte sie Ende der 1970er-Jahre an die School of Visual Arts New York, um Illustration zu studieren. Gleichgesinnte fand sie aber schnell in der Malerei. Die künstlerische Szene des New Yorks dieser Jahre prägte sie massgeblich.
Ihr Hintergrund als Illustratorin und die Affinität zu Sprache und Schrift prägen die Kunst von Amy Sillman bis heute wesentlich. Ihre Arbeiten orientieren sich an traditionellen Gattungen wie Landschaft und Porträt sowie an Begriffen wie der Abstraktion oder Cartoons, aber auch an der Faszination für die Formbildung während des experimentellen Malprozesses.
Die Begeisterung und Sorgfalt, mit der Amy Sillman malt, aber auch über Malerei spricht, schreibt und denkt, spiegelt sich sowohl in ihren Texten und ihrer Lehrtätigkeit als auch in der Präsentation ihrer Werke. Sillman schreibt seit vielen Jahren über Kunst – sowohl über ihre eigene als auch über historische Positionen. Ihre Referenzen sind so vielseitig wie ihre Arbeiten und umfassen Anekdoten aus ihrem Alltag oder kunsthistorische, an der Praxis und an der Form interessierte Abhandlungen.
Figuration und Abstraktion
Immer wieder lotet die Künstlerin die Rollen von Figürlichem, Cartoonhaftem und Abstraktem aus, wobei sie stets die Frage beschäftigt, ob etwas Abstraktes Träger von Gefühlen sein kann und ob sich daraus sogar eine Sprache formt. Dies zeigt sich etwa in den knapp 200 hier gezeigten Zeichnungen der Serie UGH for 2023 (Words / Torsos). Körper und Worte werden auf Linien und gutturale Buchstabenfolgen heruntergebrochen und so zur experimentellen Collage von changierenden Gefühlszuständen. Neben- und übereinander an einer Wand präsentiert, zeigen sich das Prozesshafte ebenso wie der Aufbau einer emotionalen Textur: Die Formen und Flächen gehen ineinander über, verdoppeln und verändern sich und erinnern in ihrer Abfolge an ein Storyboard oder ein Daumenkino. Sillmans Beschäftigung mit der Malerei hört aber nicht mit dem Niederlegen des Pinsels auf. Sie schafft digitale Animationen, die wie ihre malerischen Serien auch, einerseits die Entwicklung der abstrakten Formen dokumentieren, die Dynamik des gestalterischen Prozesses nachzeichnen sowie zugleich Gefühle erzeugen und oftmals komische Geschichten wiedergeben.
Zeichnen und Praxis
Sillman betrachtet das Zeichnen als Ausgangspunkt für all ihre Arbeiten. Sie malt und zeichnet mit unzähligen Schichten, von denen keine im Endergebnis zu sehen ist, die aber durch die aktive Oberfläche spürbar werden. Sie erkundet gestische Produktionsformen sowohl in ihren mit Tintenstrahldruck und Siebdruck überarbeiteten Leinwänden, in Zines und neuerdings auch in ihren animierten iPhone-Videos. In ihnen erweckt sie ihre digital gezeichneten Figuren zum Leben, als Reflexion ihrer bevorzugten Medien Malerei und Zeichnung mit deren jeweiligen Grenzen.
Seit 2010 nutzt Amy Sillman ihr iPhone oder iPad, um die Entstehungsprozesse ihrer Werke zu dokumentieren und in andere Medien zu überführen. So schreibt sie dazu: «Ich schneide immer, verunstalte, übermale, lösche, füge hinzu, kratze weg, hole zurück, setze fort und kehre um. Das Digitale hat mir nur ein nützliches Werkzeug an die Hand gegeben, mit dem ich in der Zeit vor- und zurück gehen kann... nicht nur kumulativ vorwärts wie bei einer gemalten Oberfläche.»
Präsentation und Display
Besonders wichtig ist Sillman die Art der Präsentation ihrer Kunst. Die Ausstellung Oh, Clock! macht sichtbar, wie stark die Künstlerin im Raum und auf einen Raum bezogen arbeitet: Sie schafft ungewohnte Displays, indem sie mit Konstrukten, Farben und Hängung in den Raum eingreift, die räumliche Struktur mittels Malerei verunklärt und die Grenzen des Bildes hinterfragt. Durch die ungewöhnliche Präsentationsform ihrer Gemälde und Zeichnungen unterläuft die Künstlerin die Erwartungen an eine konventionelle Malereiausstellung und rückt den Entstehungsprozess in den Vordergrund.
Biografie
Amy Sillman wurde 1955 in Detroit geboren und lebt heute in New York. Sie ist bekannt für ihre prozessbasierten Malereien, die zwischen Abstraktion und Figuration wechseln und unkonventionelle Medien wie Animation, Zines und Installation miteinbeziehen. Sillman hat das Feld der Malerei durch ihre konsequente Praxis und ihre Schriften in den letzten Jahrzehnten massgeblich geprägt.
Sillman zog in den 1970er Jahren von Detroit nach New York, um Japanologie zu studieren, wechselte jedoch zur Kunst und erwarb 1979 einen Bachelor an der School of Visual Arts, wo sie sich intensiv mit den laufenden Debatten über die Zukunftsfähigkeit der zeitgenössischen Malerei auseinandersetzte. Sie schloss sich der feministischen und gegenkulturellen Bewegung an und war Assistentin der Künstlerin Pat Steir sowie Mitglied und Mitwirkende des feministischen Zines Heresies. 1995 erwarb Sillman einen Master am Bard College und trat 1996 der Kunstfakultät der Schule bei. Sie unterrichtete dort von 1997 bis 2013 im Masterstudiengang Malerei und war von 2002 bis 2013 Vorsitzende der Malereiabteilung. In den letzten Jahren verfasste Sillman umfangreiche Schriften über ihre eigene künstlerische Produktion sowie über Werke von anderen Künstler:innen.
Eine umfassende Präsentation von Malereien auf Papier der Künstlerin war in der Ausstellung The Milk of Dreams zu sehen, kuratiert von Cecilia Alemani auf der 59. Biennale in Venedig. Sillman stellte weltweit in grossen Institutionen aus, sowohl im Rahmen von Einzelausstellungen beispielsweise im Arts Club of Chicago (2019), im Camden Arts Center London (2018) oder im Kunsthaus Bregenz (2015) als auch an Gruppenausstellungen, etwa im Lenbachhaus in München (2018), dem Whitney Museum of American Art in New York (2016), in der Tate Modern, London (2015) oder dem MoMA in New York (2015). Ihre erste Übersichtsausstellung one lump or two, kuratiert von Helen Molesworth, wurde 2013 im Institute of Contemporary Art in Boston eröffnet. Ihre Arbeiten sind in den Sammlungen zahlreicher Museen in den USA und Europa vertreten, unter ihnen das MoMA und das Whitney Museum of American Art in New York, die Tate Modern in London, das Musée d’Art Moderne in Paris, das Moderna Museet in Stockholm sowie das Museum of Fine Arts in Boston, das Art Institute of Chicago und das Hammer Museum in Los Angeles. Kürzlich kuratierte Amy Sillman eine Artist’s Choice-Ausstellung im MoMA mit dem Titel The Shape of Shape, die 2019 eröffnet wurde.
Begleitprogramm
Veranstaltungen
Let’s talk about painting!
Guided tour with Amy Sillman. In conversation with Kathleen Bühler, the artist talks about her work, her artistic practice in general, and the way she curated the dialogue between her work and the art collection of Kunstmuseum Bern.
Saturday, 21. September 2024, 14:00
Farbschichtungen
Zum Wochenende der Graphik 2024: Nadine Franci (Leiterin Graphische Sammlung) erläutert Amy Sillmans Strategie der metamorphose und der Überarbeitung im Bereich der Zeichnung.
Sonntag, 10. November 2024, 11:00
ZINE! (Ein-) Führung und offene Werkstatt
In einer kurzen Führung durch die Ausstellung wird der spezifische Umgang der Künstlerin mit dem Medium “Zine”beleuchtet und Inspiration gesucht. In der offenen Werkstatt kann ein eigenes Zine gestaltet werden. Führung und Werkstatt kann ein eigenes Zine gestaltet werden. Führung und Werkstatt können auch unabhängig voneinader besucht werden.
Samstag, 18. Januar 2025, 13:00
Führungen
Ausstellungsrundgänge
Sonntag, 11:00: 22.9. / 29.9. / 8.12. / 22.12.2024 // 5.1. / 2.2.2025
Dienstag, 18:30: 1.10. / 8.10. / 12.11. / 17.12.2024 // 14.1.2025
mit der Kuratorin
Ausstellungsrundgang mit der Kuratorin Kathleen Bühler
Dienstag, 18:30: 1.10. / 17.12.2024
Visite de l'exposition en français
Mardi 18:30 : 29.10.2024
Dimanche 11:30 : 26.1.2025
Exhibition tour in English
Sunday, 11:30: 15.12.2024
Literarische Führungen mit Michaela Wendt
Sonntag, 13:00: 13.10. / 17.11.2024 // 2.2.2025
Dienstag, 18:00: 24.9.2024
Einführung für Lehrpersonen
Mittwoch, 14:00: 16.10.2024
Workshops
Aktuell inspiriert
Inspiriert von Amy Sillman setzen wir uns mit Schichtungen und Überlagerungen auseinander und drucken von Hand unsere eigenen mehrfarbigen Postkarten (für Erwachsene und Jugendliche ab 16 Jahren).
Sonntag, 10. November 2024, 14:00–15:30
Dienstag, 10. Dezember 2024, 18:00–19:30
Impressum
Amy Sillman. Oh, Clock!
Kunstmuseum Bern
20.9.2024–2.2.2025
Kuratorin: Kathleen Bühler
Kuratorische Assistentin: Nina Liechti
Ausstellungskatalog: Amy Sillman. Oh, Clock!, hrsg. von Eva Birkenstock, Kathleen Bühler und Nina Zimmer, Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln 2024. Mit Beiträgen von Eva Birkenstock, Julia Bryan-Wilson, Kathleen Bühler, Sabeth Buchmann, Rose Higham-Stainton, Michelle Kuo und Jenny Nachtigall
Digital Guide:
Umsetzung: NETNODE AG
Projektleitung: Andriu Deflorin, Cédric Zubler
Mit der Unterstützung von:
Kunstmuseum Bern
Hodlerstrasse 8–12, 3011 Bern
+41 31 328 09 44
info@kunstmuseumbern.ch
kunstmuseumbern.ch/AmySillman