Einleitung
Albert Anker (1831–1910) gehört zu den bekanntesten Schweizer Künstlern und ist für seine detailgetreuen, idealisierenden Darstellungen ursprünglich-bäuerlicher Lebensgemeinschaften bekannt. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit übernahm er öffentliche Ämter in der Gemeinde, im Kanton und auf Bundesebene. Als Bürger der Bauerngemeinde Ins war er schulpolitisch bis ins hohe Alter aktiv und beschäftigte sich mit Bildungsfragen, etwa 1896 mit der Gründung der Sekundarschule, welche er als Sekretär der Inser Schulkommission mitverantwortete.
Aus Albert Ankers Hand stammen die schönsten Kinderbildnisse, welche der Realismus des 19. Jahrhunderts europaweit hervorgebracht hat. Insbesondere seine lesenden und schreibenden Mädchen sind von eindrücklicher und stiller Kraft. Mit ihnen zelebriert der Künstler die kindliche Versunkenheit und erinnert an das beglückende Erlebnis, in eine Geschichte einzutauchen und sich eine eigene Welt auszumalen. Lesen beflügelt die Fantasie, ermöglicht Zugang zu Wissen und hilft, das eigene Denken zu schulen. Als theologisch ausgebildeter Humanist wünschte sich Anker den breiten Bildungshorizont nicht nur für sich und seine Kinder, sondern für alle Bürger:innen der Schweiz. Denn erst 1874 wurde das Recht auf Schulbildung für Knaben und Mädchen in der Bundesverfassung verankert.
Wenn es etwas gibt, was den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt einer Gesellschaft versinnbildlicht, dann ist es das Bildungsniveau von Frauen. Je besser gebildet Frauen in einer Gesellschaft sind, desto besser ist der wirtschaftliche Status ihrer Familien und desto höher sind die Ausbildungschancen ihrer Kinder. Das ist heute weltweit zu beobachten und war auch in der Schweiz im 19. Jahrhundert nicht anders. Unsere Ausstellung möchte die Darstellung lesender und schreibender Mädchen und junger Frauen unter dieser Prämisse zeigen. Sie fragt danach, in welcher Weise Ankers Engagement für die Bildung von Frauen der Wahrnehmung seines Schaffens eine neue Facette hinzufügt.
Neben Werken aus unserem eigenen Bestand zeigen wir ausgewählte Leihgaben aus privaten und öffentlichen Sammlungen sowie aus dem Centre Albert Anker in Ins.
Rundgang mit Patti Basler
Die vielfach ausgezeichnete Satirikerin und Kabarettistin Patti Basler unterhält sich mit Kathleen Bühler, Kuratorin der Ausstellung, über folgende Werke:
Rosa und Bertha Gugger beim Stricken, 1885
Schulmädchen mit Schiefertafel und Nähkörbchen, 1878
Dorfschule im Schwarzwald, 1858
Kleinkinderschule auf der Kirchenfeldbrücke, 1900
Albert Anker – Zeichner, Politiker und Bildungsförderer
Albert Anker als Zeichner
Obwohl Albert Anker schon zu Lebzeiten als Maler gefeiert wurde, ist weit weniger bekannt, dass er zu den begnadetsten Schweizer Zeichnern seiner Zeit gehört. Seine einzigartigen Bleistift-, Kohle- und Federzeichnungen lassen sich bezüglich Ausführung und kompositorischem Entwurf mit den Besten seiner Zeit messen. Ausgangspunkt all seiner Gemälde sind vorbereitende Arbeiten auf Papier. Die frühesten erhaltenen Zeichnungen stammen aus dem Jahr 1843, die letzten aus seinem Todesjahr 1910. In seinem während sechzig Jahren entstandenen Oeuvre schuf Anker mehrere Tausend Arbeiten auf Papier in Form von Einzelblättern und in Skizzenbüchern. Aufgrund dieser hohen Anzahl an Zeichnungen und weil Anker nicht alle signiert hatte, sind denn auch immer wieder Fälschungen im Umlauf. Das zeichnerische Schaffen umfasst rasche Skizzen, präzise Detailstudien sowie Einzel- und Kompositionsstudien genauso wie eigenständige Blätter. Mithilfe der Zeichnung hat Albert Anker seine künstlerischen Absichten formuliert und entwickelt. Darin kommen seine Empfindungen und sein psychologisches Verständnis zum Ausdruck. Sein Repertoire reichte dabei von zarten silbergrauen Bleistiftzeichnungen bis hin zu tiefschwarzen, kräftig gewischten Kohlezeichnungen.
Albert Anker als Politiker
Im Herbst 1870 wird Albert Anker zum Mitglied des Grossen Rates des Kantons Bern gewählt, wo er während vier Jahren tätig bleibt. Als Vorsitzender der vorberatenden Kommission empfiehlt er dem Rat, dem Dekret betreffend den Bau des Berner Kunstmuseums zuzustimmen. Obwohl er im Privatleben zu einzelnen politischen Ereignissen oft ziemlich scharf Stellung bezieht, will er nach 1874 nicht wiedergewählt werden. Dafür betätigt er sich in Ins als Protokollführer in der Schulkommission (1893–99) und als Mitglied im Kirchgemeinderat. Albert Anker war schulpolitisch bis ins hohe Alter aktiv und somit mit aktuellen und konkreten Bildungsfragen vertraut. Als Sekretär der Inser Schulkommission war er, im hohen Alter von 71 Jahren, 1896 bei der Gründung der Sekundarschule dabei. Dieser neue Schultyp bot den begabteren Kindern, auch auf dem Lande, nach dem sechsten Schuljahr eine anspruchsvollere Alternative zur Volksschule.
Als Vertreter des Bürgertums hiess Anker die Entwicklung zur arbeitsteiligen Gesellschaft mit Beförderung eines weiblichen Arbeitsbereiches gut, wobei er sich gleichzeitig über das rigorose Absenzensystem ärgerte, welches den Mädchen nicht mehr erlaube, ihm Modell zu sitzen, weil sie in der Schule nicht fehlen durften. Dennoch interessierte er sich für die Rechte der Frauen und notierte 1898 mit Interesse die Bedingungen, unter welchen die Frauen in Norwegen das Stimmrecht erhalten hatten. 1889 wird Anker schliesslich vom Bundesrat in die Eidgenössische Kunstkommission gewählt. Ab 1891 ist er auch Mitglied der Eidgenössischen Kommission der Gottfried Keller-Stiftung.
Albert Anker und die Bildung
Schule und Bildung gehören zu den wichtigsten Themen von Albert Anker: Lesende und schreibende Kinder, Kinder auf dem Schulweg und bei den Hausaufgaben hat Anker während seiner ganzen Schaffenszeit gemalt, wobei sich die Bilderreihe gleichsam zu einer psychologischen Studie schulischer Tätigkeiten zusammenfügt. Häufig hat Anker Mädchen mit ihren Schulutensilien unter dem Arm dargestellt, die schwarze Schiefertafel mit Schriftspuren gut sichtbar. Oft führen sie auch Schreibzeug und abgegriffene Hefte mit. Vertrauens- und erwartungsvoll machen sie sich auf den Weg in die Schule. Die lesenden und schreibenden Kinder sind stets in ihrer Individualität erfasst und wähnen sich nie beobachtet, vollkommen natürlich sind sie in ihre Lektüre, in ihr Rechnen und Schreiben versunken. Die Inser Schülerinnen mussten damals nur im Winter den ganzen Tag die Schulbank drücken, im Sommer fand der Unterricht halbtags statt. Grossen Wert wurde dabei auf den Handarbeitsunterricht für Mädchen gelegt. In allen neun Schuljahren waren dafür im Sommer vier, im Winter sechs Stunden pro Woche reserviert. Nach der Verfassung von 1874 bestand in der Schweiz eine neunjährige Schulpflicht. Alle Versuche, das Schulwesen auf eidgenössischer Ebene zu regeln, wurden jedoch zu Gunsten von föderalistischen, lokalen Lösungen abgewiesen. Anker war viele Jahre lang Sekretär der Schulkommission von Ins und deshalb mit dem Bildungswesen vertraut. Zahlreichen Briefen ist zu entnehmen, dass er sich intensiv um Schulfragen und schulische Probleme seiner Kinder und Enkel gekümmert hat, stets stand er ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Für Anker war das «Wort» als Informationsträger von Wissen, Gesetzen und Glauben die Grundlage einer funktionierenden gesellschaftlichen Ordnung.
Biografie
Albert Anker, Selbstbildnis, 1901, Öl auf Leinwand, 48,2 x 36,2 cm,
Kunstmuseum Bern, Geschenk der Witwe des Künstlers,
Foto: © Kunstmuseum Bern
1831
Geboren am 1. April in Ins, als zweites von drei Kindern des Tierarztes Samuel Anker und Marianne Elisabeth Gatschet. Schulen in Neuchâtel.
1845–48
Privatunterricht im Zeichnen bei Louis Wallinger (1819–1886). 1847 Tod des Bruders Rudolf und der Mutter.
1849–51
Gymnasium in Bern. Maturität. Beginn des Theologiestudiums an der Universität Bern. Im September 1851 erste Reise nach Paris.
1852–54
Juni 1852 Tod der Schwester Luise. Fortsetzung des Theologiestudiums an der Universität Halle in Deutschland. Im Herbst 1854 geht er nach Paris. Wird Schüler des Waadtländer Klassizisten Charles Gleyre (1806–1874).
1855–60
Besuch der Ecole Impériale et Spéciale des Beaux-Arts.
Ab 1856
Teilnahme an Turnus-Ausstellungen des Schweizerischen Kunstvereins.
1859–85
Teilnahme am Pariser Salon.
1860
Tod des Vaters. Von nun an verbringt Anker regelmässig den Sommer in Ins, den Winter in Paris.
1861
Erste Reise nach Italien, gemeinsam mit seinem Freund François Ehrmann.
1864
Heirat mit Anna Ruefli (1835–1917) aus Biel. Sechs Kinder werden geboren: 1865 Louise / 1867 Rudolf (†1869) / 1870 Emil (†1871) / 1872 Marie / 1874 Moritz / 1877 Cécile.
1866
Am Pariser Salon erhält Anker eine Goldene Medaille.
1870–74
Mitglied des Grossen Rates des Kantons Bern, setzt sich für den Bau des Berner Kunstmuseums ein.
1878
Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion.
1889
Wird gemeinsam mit Frank Buchser, Arnold Böcklin, François Bocion u.a. in die Eidgenössische Kunstkommission gewählt.
1890
Aufgabe seines Wohnsitzes in Paris. Beginn mit den Illustrationen zur Gotthelf-Ausgabe, wiederholte Reisen ins Emmental.
1891–1901
Mitglied der Eidgenössischen Kommission der Gottfried Keller-Stiftung.
1900
Doctor honoris causae der Universität Bern.
1901
Ende September Schlaganfall. Behinderung seiner rechten Hand. Weitgehende Aufgabe der Ölmalerei.
1910
Anker stirbt am 16. Juli in Ins.
Begleitprogramm
Gespräche in der Ausstellung
Virtuoser Pinselstrich
Der Künstler Francisco Sierra erzählt aus seiner eigenen Praxis und lotet Ankers Werke in ihrer technischen Raffinesse aus.
Dienstag, 23. April 2024, 18:00
Bildung für alle
Die Bildungshistorikerin Katharina Kellerhals betrachtet Ankers Motive vor dem Hintergrund ihres Forschungsgebiets: der Volksschule des 19. Jahrhunderts im Kanton Bern.
Dienstag, 11. Juni 2024, 18:00
Close-up: Ankers Zeichnungen
Welche Rolle spielen Zeichnungen in Albert Ankers Schaffen? Die Leiterin der Graphischen Sammlung Nadine Franci sowie die Graphikrestauratorin Dorothea Spitza zeigen noch nie präsentierte Schätze.
Dienstag, 18. Juni 2024, 18:00
Führungen und Angebote im Atelier
Schweizer Vorlesetag
Anlässlich des Schweizer Vorlesetags tauchen wir gemeinsam ein in die Welt Albert Ankers und seiner Bilder. Wir lesen mit jeder Generation die passende Geschichte.
Mittwoch, 22. Mai 2024
10:15 Erste Schritte im Museum (für 1- bis 3-Jährige, mit Begleitperson)
12:30 Kunst über Mittag (für Erwachsene)
14:00 Hinhören! (für Schüler:innen)
15:00 KunstSpatz (für Kinder ab 3 Jahren)
Kunst und Religion im Dialog
Angela Büchel Sladkovic (Katholische Kirche Region Bern) im Dialog mit Michael Krethlow (Kunstmuseum Bern)
Sonntag, 2. Juni 2024, 15:00
Literarische Führungen mit Michaela Wendt
Dienstag, 18:00: 28.05.24 / 25.06.24
Sonntag, 13:00: 07.04.24 / 05.05.24
Öffentliche Führungen
(Ausstellung und Sammlung)
Dienstag, 19:00: 14.05.24
Sonntag, 11:00: 24.03.24 / 31.03.24 / 14.04.24 / 05.05.24 / 09.06.24/ 23.06.24 / 07.07.24 / 21.07.24
mit der Kuratorin
Ausstellungsrundgang mit der Kuratorin Kathleen Bühler
Dienstag, 19:00: 30.04.24
Visites guidées en français
(Exposition et collection permanente)
Mardi 19h00 : 07.05.24
Dimanche 11h30 : 30.06.24
Impressum
Albert Anker. Lesende Mädchen
Kunstmuseum Bern
22.03.–21.07.2024
Kuratorin: Kathleen Bühler
Kuratorische Assistentin: Anne-Christine Strobel
Wir danken Therese Bhattacharya-Stettler, Katharina Kellerhals, Isabelle Messerli, Malinee Müller und Gerrendina Gerber-Visser für die Verwendung ihrer Texte.
Digital Guide:
Umsetzung: NETNODE AG
Projektleitung: Martin Stadelmann, Cédric Zubler
Mit der Unterstützung von:
KUNSTMUSEUM BERN
Hodlerstrasse 8–12, CH-3011 Bern
T +41 (0)31 328 09 44
info@kunstmuseumbern.ch
kunstmuseumbern.ch/AlbertAnker